Identität und Nationalismus sind Begriffe, die derzeit in Europa populär sind. Manche machen dafür die Einwanderung aus muslimisch geprägten Ländern verantwortlich, andere geben Europa und seiner Bürokratie die Schuld daran, dass in vielen Ländern und Regionen Fremdenfeindlichkeit und Abschottung zunehmen. Andreu Ramis Puig-gròs, 59-Jähriger Anthropologe, Historiker und Kulturmanager aus Lloret de Vistalegre, hat sich dazu schon vor mehr als 20 Jahren Gedanken gemacht. Seine Doktorarbeit schrieb er 1992 zum Thema „Cultura popular i nacionalisme". So heißt auch das Buch, das er 2002 erstmals und nun in neuer Auflage publiziert hat.

Was hat sich in der Volkskultur seit 1992 auf Mallorca verändert?

1992 gab es zum Beispiel weder Batucadas (Percussiongruppen, die Straßenfeste begleiten, Anm. d. Red.) noch Correfocs (Feuer­läufe). Wenn Sie heute meine Kinder fragen, dann würden die antworten, dass es die schon immer gab und dass sie Teil unserer Tradition sind. Das macht deutlich, dass Tradition kein unveränderlicher, aus dem historischem Kontext herausgerissener Monolith ist, sondern einem ständigen Wandel unterworfen ist.

Warum wird ein 26 Jahre altes Buch jetzt wieder verlegt?

Die Idee hatte der Verleger Lleonard Muntaner. Das Thema ist in Zeiten der Globalisierung aktueller denn je. Das beschäftigt uns nicht nur hier auf den Balearen, wo die Bevölkerung in den vergangenen 20 Jahren um 47 Prozent zugenommen hat. Auch europaweit sind den Menschen Begriffe wie das Eigene, das Fremde, Identität und Tradition wichtig geworden. Da kann es nicht schaden, ein bisschen Klarheit zu verschaffen, es sind ja sehr schwammige Begriffe, die gerne instrumentalisiert oder manipuliert werden.

Die katalanischen Separatisten manipulieren Begriffe wie Identität und Tradition ebenso wie die rechtspopulistischen Parteien in Europa. Stimmen Sie dem zu?

Es gibt seit jeher Versuche, diese Begriffe ideologisch zu belegen, bei Nationalisten und bei Internationalisten. Letztlich entscheidet aber die Gesellschaft, was sich verbreitet, was als Identitätsstifter bleibt. Lebendige Tradition besteht aus zwei Achsen, zwischen denen wir ein Gleichgewicht finden müssen: Die vertikale, historische und die horizontale, gegenwärtige.

Wie kann dieses Gleichgewicht in der Praxis gelingen?

Das ist auf den Balearen eine Herausforderung: Hier leben Menschen aus 150 Ländern, Formentera hat einen Ausländeranteil von 37 Prozent, auf Ibiza sind es 27 Prozent. Das ist die horizontale Achse, die gesellschaftliche

Realität von heute. Dann haben wir die historische Achse, das, was die Einheimischen als ihre Tradition, als den Ausdruck ihrer Identität verstehen. Wenn Sie den Zuge­zogenen die Gelegenheit geben, die Kultur der Einheimischen, also ihre Feste, Gastronomie, Sprache, Bräuche etc. kennenzulernen und zu teilen, dann ist schon viel gewonnen. Und gleichzeitig muss man offen bleiben für Einflüsse von außen, die es ja besonders hier immer gegeben hat.

Können Sie mir ein Beispiel geben für ein geglücktes Gleichgewicht zwischen Altem und Neuem?

Es gibt hier die Tradition der Hausnamen. Damit hat man die Bewohner, die ja früher oft genauso hießen wie ihre Nachbarn, also Pere, Joan, Mariam oder Xisca, voneinander unterschieden. Ein Haus in einem Dorf der Insel hatte den Hausnamen Ca'n Bona Nit. Die Tochter der Besitzer heiratete dann einen Deutschen und dann hieß das Haus Ca'n Guten Abend.

Warum klingt der Begriff Tradition oft ein wenig verstaubt und warum fühlen sich viele von ihm abgestoßen?

Weil er von Folkloristen, also den Vorgängern heutiger Ethnologen und Anthropologen, Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt wurde. Sie standen unter dem Einfluss deutscher Romantiker, gingen mit einer gewissen Verklärung ans Werk, suchten nach Schätzen, nach Souvenirs der Vergangenheit und verklärten nebenbei auch noch das Leben auf dem Land, als ob es in der Stadt keine interessanten Bräuche gegeben hätte. Dinge, die von außen kamen, wurde nicht erwähnt: Dass unser Nationalprodukt, die Sobrassada-Wurst, erst seit der Entdeckung Amerikas mit Paprika gewürzt wird, und dass sie vorher nicht rot, sondern hell war, zum Beispiel. Oder dass die berühmte „Jaleo"-Musik bei den Feiern zu Sant Joan auf Menorca erst 1888 integriert wurde und von einem Komponisten aus der Extremadura stammt. Die ersten Folkloristen sammelten also nicht nur Lieder, Tänze und Rituale, die ihnen wichtig erschienen. Sie spiegelten dabei auch ihr eigenes, klerikales, patriarchales, sehr konservatives Weltbild. Man denke nur an

Mossèn Alcover oder Pare Ginard, die ja beide Priester waren (Autoren von Wörterbüchern und Märchensammlungen, Anm. d. Red.). Schlüpfrige Texte und dreckige Witze haben sie nicht gesammelt

Mallorcas Traditionsverständnis ist sehr selektiv. Man hat den Eindruck, hier lebten die Ureinwohner der Talaiot-Epoche und dann kamen die christlichen Katalanen. Das islamische und das jüdische Erbe werden so gut wie ignoriert.

Das sind die Folgen einer Museumskultur und der Sammlungen, die, wie gesagt, vor vielen Jahren und in einer anderen Zeit angelegt wurden. Es gibt mittlerweile neue akademische Forschungsansätze, neue Deutungen der Geschichte. Allerdings haben bei allem, was mit kulturellem Erbe und Denkmalschutz zu tun hat, die Institutionen das Sagen. Das heißt, wenn kein politischer Wille da ist, das Erbe neu zu deuten, dann kommt das in der Gesellschaft auch nicht an und kann nicht in eine neue Tradition eingebunden werden.

Nach welchen Kriterien gehen Anthropologen heute vor?

Seit Ende der Franco-Diktatur ist der Ansatz progressiver, Begriffe wie Multikulturalität tauchen auf, es gibt weniger Berührungsängste mit zeitgenössischen Ausdrucksformen von Populärkultur. Ein Kollege von mir hat zum Beispiel mit Studenten per WhatsApp verschickte Weihnachtsgrüße untersucht, wie das schon der katalanische Ethnologe Joan Amades vor hundert Jahren getan hat, mit Grußkarten auf Papier, klar.

Das heißt, in der Volkskultur gibt es keine Grenzen zwischen Banalem und Großem? Alles ist gültig?

Ja. Das ist ein fließender Prozess, den man zwar erfassen, aber glücklicherweise nicht beeinflussen kann. Nehmen wir als Beispiel die Gefängnisstrafe für den mallorquinischen Rapper Valtonyc wegen Königsbeleidigung: Er macht zeitgenössische Populärkultur. Die Strafe wird ihn nicht zum Schweigen bringen, im Gegenteil: Es wird immer mehr Rapper geben, die sich kritisch über die staatlichen Institutionen äußern werden. Volkskultur ist zu subversiv, als dass man sie gängeln könnte. Und um auf Katalonien zurückzukommen: Je mehr der Staat versucht, Äußerungen von Identität zu unterdrücken, desto stärker werden sie. Bei vielen hier in Spanien ist der Begriff Multikulturalität leider noch nicht angekommen.

Manchmal hat man auf Mallorca den Eindruck, dass Kultur auf einer Werteskala angesiedelt wird: Hier das Eigene, das bewahrt werden muss, dort das Fremde, vor dem man sich schützen muss. Ist das die richtige Einstellung?

Nein, das ist falsch. Das erinnert mich an die Zeiten des Kolonialismus, an das Ende des 19. Jahrhunderts. Das Fremde, Exotische, Ferne wurde als minderwertig betrachtet und abgelehnt. Allerdings ist es heutzutage nicht einfach, wo wir dieses Fremde sozusagen im eigenen Haus, also in Europa oder auf der Insel haben, ein Gleichgewicht zu finden. Das ist dann nicht mehr nur eine kulturelle Frage, sondern eine wirtschaftliche und soziale: Da muss man mit einer Politik, die Integration ermöglicht, regulierend eingreifen.

Muss man auch auf den Balearen regulierend eingreifen, um die Integration zu fördern?

Ja, bei Bildung und Erziehung zum Beispiel. Integration sollte nicht als Zwang, sondern als Bereicherung verstanden werden. Wer will schon an einem Ort leben, den er nicht kennt?

Welche Rolle spielt der Tourismus?

Touristen sollten auch die Chance bekommen, die Eigenheiten eines Reiseziels kennenzulernen. Erst dann wird aus einem Reiseziel ein Ort. Wer hier Urlaub macht, sollte doch wissen, dass er auf den

Balearen ist und nicht, sagen wir, auf den Azoren.