Für Ángel (14), Pau (13), Joan (14), Jairo (15), und Guiem (13) ist das Ganze nur ein Spiel, wenn auch ein besonders gutes. Die Freunde aus dem Dorf Sencelles nordöstlich von ­Palma, springen mehrmals in der Woche aus einem fliegenden US-amerikanischen Schulbus über einer virtuellen Insel ab. Per raketengetriebenen Gleitschirm steuern sie eine der 21 unterschiedlich gestalteten Regionen an, entweder Waldgebiete, Sumpfregionen oder Städte. Dann gilt es, Holz und Metall zu sammeln, um eine Festung bauen zu können. Und natürlich müssen Waffen gefunden werden. Denn allein mit der Spitzhacke, die zur Grundausrüstung gehört und mit der man so ziemlich alles kurz und klein schlagen kann, um Rohstoffe, Fallen oder Waffen zu sammeln, wird man die nächsten 20 Minuten nicht überleben. Zeit spielt eine entscheidende Rolle, man befindet sich im Auge eines tödlichen Sturms, das immer kleiner wird. Außerdem sind 99 weitere Spieler auf der Insel gelandet und wollen nur eins: sich gegenseitig umbringen, um als Sieger das Schlachtfeld mit einem Freudentanz zu verlassen.

Die fünf Jungs aus Sencelles gehören zu den 125 Millionen Spielern, die sich laut Hersteller Epic Games weltweit in der computeranimierten Welt von Fortnite registriert haben. Dabei ist das Spiel gerade einmal ein gutes Jahr alt. Die erste Version - noch im Mehrspieler-Modus gegen Zombies - erschien am 25. Juli 2017, die derzeitige - „Battle Royale" - am 26. September 2017. Und jetzt spielen es alle: Zumindest auf Mallorca dürfte es kaum ein Schulkind geben, dass damit noch nicht in Berührung gekommen ist. „Das Interesse der Kinder an Fortnite ist extrem", sagt die Lehrerin einer Privatschule in Palma. „Viele sind müde, weil sie nachts heimlich spielen - das macht sich mittlerweile auch in ihren Noten bemerkbar."

Hohes Suchtpotenzial

Nicht nur Jungs, auch Mädchen spielen Fortnite. Viele Eltern sind besorgt. „Nach und nach hat sich das Spiel in unser Haus geschlichen und ist für die ganze Familie zum Thema geworden", sagt Miquel Amorós, Vater von zwei Jungs, die seither nervöser als früher seien. Rund 300 Eltern besuchten im Oktober eine Info-Veranstaltung zu Fortnite von der Balearen-Universität und der Suchthilfe Projecte Home. „Das Video-Spiele ein hohes Potenzial haben, um Sucht zu erzeugen, ist bekannt", erklärt die Psychologin Azucena Hernández, „bei Fortnite aber kommt noch eine ganze Menge mehr hinzu."

Fortnite Battle Royale ist gratis und kann innerhalb von wenigen Sekunden heruntergeladen werden - aufs Handy, PC, Mac, Tablets, X-Box, Playstation oder Nintendo Switch. Erst später, wenn man Waffen oder Kleidung kaufen will, muss man bezahlen. Man könnte auch sagen, man wird zum Konsum verführt: Die Pakete mit neuen Charakteren, besseren Waffen und sonstigen Extras gibt es ab 39,99 Euro. Je besser man ausgestattet ist, desto eher bleibt der Spieler am Leben - und kann einen jener Siegestänze vollführen, die in vielen Youtube-Videos nachgetanzt werden. Ein Tanz kostet um die zwei Euro. In der Runde der fünf Jungs gibt es niemanden, der noch nichts gekauft hat, und sei es nur Kleidung, die keinerlei Vorteile im Spiel mit sich bringt, aber dazu führt, sich noch mehr mit seiner individualisierten Figur zu identifizieren.

Ungewöhnliche Farb- und Tongestaltung

„Weiter zur Abhängigkeit trägt bei, dass man ständig Nachrichten geschickt bekommt, die einen zum Weiterspielen auffordern", sagt Azucena Hernández. Spielt man Fortnite auf dem Handy oder Tablet, erscheinen Push-Nachrichten, die mitteilen, welche Freunde gerade online sind und warten.

Auch in seiner Farb- und Tongestaltung ist das Spiel außergewöhnlich. „Es gibt sehr viel Rosa und Lila, die Umgebung wirkt niedlich, kindgerecht, wie ein bunter Comic. Damit will der Hersteller eine hohe Stufe an Aufmerksamkeit erzeugen. Die Waffen sind sehr laut, was zusätzlich in das Spiel hineinzieht", analysiert Azucena Hernández. In einem extremen Gegensatz dazu stünde das brutale Geschehen, das Töten der Konkurrenten. „Es gibt kein Blut, aber die Botschaft ist ganz klar gewalttätig", sagt Hermández.

Aufmerksamkeit und Aufregung werden noch dadurch erhöht, dass Fortnite Battle Royale in Echtzeit gespielt wird. „Wer eine ­Pause macht, ist tot. Der Spieler muss sich zu 100 Prozent konzentrieren." Und schlussendlich mache auch das Gewinnen abhängig, so die Psychologin. „Wer als Letzter überlebt, ist der Beste. In der realen Welt lässt sich das nicht so einfach erleben." Zwar könne man beim Fußball auf dem Sportplatz Erfolgserlebnisse haben, doch die seien viel schwerer zu erreichen als in der Welt von Fortnite, wo die Endorphine im Sekundentakt durch den Körper jagen.

Plötzlich taucht ein Gegner auf

Wie die Emotionen hochkochen, lässt sich beobachten, wenn die fünf Freunde zusammen spielen: Plötzlich taucht ein Gegner auf, der das Feuer eröffnet. Im selben Moment zieht Guiem eine Wand hoch, um sich zu schützen. Anschließend konstruiert er eine Treppe, rennt sie hinauf und erledigt den Angreifer beim ­Herunterspringen mit einer Maschinenpistole. Der Jubel bei den Jungs ist groß, auch wenn ein anderer Gegner wenige Sekunden danach ­Guiems Figur tötet.

Fragt man sie, wer der beste Spieler der Welt sei, rufen alle: „Ninja!", und rutschen vor Begeisterung fast von ihren Stühlen. Ninja, unter diesem Pseudonym lockt sich der 27 Jahre alte Tyler Blevins aus Grayslake im US-Staat ­Illinois ins Fortnite-Universum ein. Auf You­tube folgen ihm fast 20 Millionen Fans, im ­November haben sich bislang 3,7 Millionen Menschen seine Videos angeschaut. Laut dem US-Magazin „The New Yorker" verdient Blevins allein mit seinen Fortnite-Live-Streams mehr als eine halbe Million Dollar im Monat. „Das sind für Jugendliche Stars wie Fußballspieler. Sie sind Vorbilder, denen sie nacheifern", sagt ­Azucena Hernández.

Was die Psychologin rät

Viel Positives kann die Psychologin nicht über das Spiel sagen. Ja, es sei kreativ, wie man sich mit dem Bau von Wänden und Treppen innerhalb von Sekunden aus einer Gefahrenzone bringe. Auch das mit dem Teamplay sei gut und dass man einer verletzten Spielfigur helfen kann - wobei das kaum einer macht, weil es zu lange dauert. Trotz der Altersempfehlung „ab 12 Jahren" spielen häufig schon Sechsjährige Fortnite. „Ich habe ein Auge auf meine Tochter und kontrolliere ihr Spielverhalten. Täte ich das nicht, wüsste ich nicht, was passieren würde", sagt die Mutter einer Zehnjährigen aus Binissalem.

Azucena Hernández rät Eltern, einen Vertrag mit den Kindern abzuschließen, wie lange Fortnite gespielt werden dürfe. Und: Eine Spielkonsole gehöre ins Wohnzimmer, wo man sich den Fernseher teilen müsse. Verbieten würde sie das Spiel nicht, selbst wenn sie das könnte. Genauso wenig könne man Smartphones verbieten. „Man muss lernen, damit verantwortungsvoll umzugehen", sagt sie.

Hilfen für Eltern: www.usk.de/usk-broschueren