Leopold II., Großherzog der Toskana, und seine Gemahlin Maria Antonia waren im Mai 1869 zu Besuch bei ihren kaiserlichen Verwandten, Franz Josef I. und Elisabeth, der legendären Sisi, in Wien. Am Schreibtisch des Kaisers lag ein großes, schweres Buch, gebunden in granat­rotem Leinen mit Goldprägung: „Die Balearen in Wort und Bild geschildert", stand darauf. Er habe es noch nicht gelesen, meinte der Kaiser, es wäre ihm gerade zugesandt worden.

„Ich benütze die Gelegenheit, um dir meinen herzlichsten Dank für die Zusendung deines schönen Werkes auszusprechen, das ein glänzendes Zeugnis deines ausdauernden Fleisses gibt. Indem ich hoffe, dass die beabsichtigte Reise (Ludwig Salvator hatte um die Erlaubnis zu einer neuen Reise gebeten, Anm. d. Red.) die Erholung von so vieler geistiger Anstrengung gewähren wird, verbleibe ich dein treuer Vetter Franz Josef", heißt es in einem Brief aus Schönbrunn vom 6. Juni 1869, den der Kaiser ­einige Tage später an den 22-jährigen Autor des Buches, das auf seinem Schreibtisch lag, schrieb.

Der Autor war Erzherzog Ludwig Salvator, der zweitjüngste Sohn der letzten regierenden Großherzöge der Toskana, Leopold II. und Maria Antonia. Er hatte einige Monate zuvor angefragt, ob er Franz Josef dieses Buch widmen dürfe: „Ich nehme mit Vergnügen die Widmung deines Buches über die Balearen an. Es wird mich sehr interessieren, dieses Ergebnis deines Fleisses und deiner Studien durchzusehen und ich bitte dich deshalb, mir den ersten Band, sobald er vollendet ist, zu schicken. Mit der Bitte, deine Eltern freundlichst von mir zu grüssen, bleibe ich dein treuer Vetter Franz Josef", lautete die Antwort aus Wien vom 1. Februar 1869, adressiert an Seine k.u.k. Hoheit den durchlauchtigsten Herrn Erzherzog Ludwig Salvator in Prag.

Die Käfer

Der Kaiser schreibt in seinem Brief von einem „ersten Band". Daraus geht hervor, dass Ludwig Salvator zu diesem Zeitpunkt bereits eine Fortsetzung seines Buchprojekts über die Balearen ins Auge gefasst hatte. Dabei hatte er sich anfangs, als er zum ersten Mal auf die Insel reiste, nur für Käfer interessiert: „Im Jahre 1867 reiste ich nach den Balearen und verweilte dort mehrere Monate, um auf jenen Inseln topographisch-statistische Forschungen vorzunehmen. Obwohl es eigentlich nicht der Hauptzweck meiner Reise war, so widmete ich doch meinem Lieblingsstudium, den Naturwissenschaften, viele Stunden und brachte durch eifriges Sammeln eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Naturprodukten zusammen. Besonders reich war meine entomologische Ausbeute, namentlich die der Coleopteren [Käfer]. Die Notwendigkeit bei der topographischen Schilderung jener Inseln auch etwas tiefer auf die Fauna und Flora derselben eingehen zu müssen, führte es mit sich, dass ich für die Ordnung und Bestimmung des gesammelten Materials sorgen musste."

Die Recherchen

Und so begann der junge Erzherzog damit, die Insel genauer zu erforschen. Es entstand die Idee, etwas Ausführlicheres zu schreiben als das kleine Büchlein „Beitrag zur Kenntnis der Coleopteren-Fauna der Balearen", das er 1869 in Prag veröffentlichte. Ludwig Salvator durchwanderte die Insel zu Fuß, auf einem Maultier sowie gelegentlich mit einer Kutsche, und umrundete sie mit einem Schiff. Er traf Einheimische, stellte ihnen Fragen, schrieb die Antworten nieder, zeichnete und sammelte die kleinsten Details. Es sollte nicht bei diesem einen Besuch bleiben. Der junge Erzherzog kehrte zwar vorerst nach Prag zurück, wo er im Palais ­Kinsky am Altstädter Ring eine Wohnung gemietet hatte, kam dann aber wieder und wieder, bis er endlich blieb.

Eine Art Enzyklopädie wollte er schreiben, ein alles umfassendes Nachschlagewerk sollte es werden. 22 Jahre lang arbeitete er daran, mit Akribie, Begeisterung und einem großen Mitarbeiterstab, um den Balearen und deren Bewohnern ein Werk zu hinterlassen, das seinesgleichen sucht: neun Bände, 40 x 31 cm groß, jeder Band einige Kilo schwer, Tausende von Seiten, über 600 Abbildungen. Als Gute-Nacht-Lektüre nicht geeignet, eher zum Lesen am Stehpult, und selbst dafür ist es recht unhandlich. Legt man die Bände aufeinander, misst der Stapel beinahe einen Meter. Diese Publikation war nicht für den Verkauf bestimmt, sondern wie beinahe alle Werke aus Ludwig Salvators Feder als Geschenk für Freunde, ­Familie, Mitarbeiter, Institutionen, Museen und Archive. F.?A. Brockhaus in Leipzig druckte zwischen 1869 und 1891 hundert Stück pro Band. Von den Separatbänden über die Insel Menorca und die Stadt Palma, die keine ­Farblithographien enthalten, sondern nur Schwarz-Weiß-Abbildungen, waren es jeweils 500 Stück. Heute sind nur noch ganz wenige Gesamtausgaben vorhanden. Der Preis dafür liegt bei über 50.000 Euro.

Die Enttäuschung

Dabei war diese Reise nach Mallorca ursprünglich gar nicht geplant gewesen. Der junge Erzherzog wollte die Sommerferien des Jahres 1867 zusammen mit seinem Erzieher, Baron Eugenio Sforza, an der dalmatinischen Küste verbringen. Dieses Gebiet kannte er bereits sehr gut, er hatte es seit frühester Jugend immer wieder bereist, erforscht und beschrieben. Daran wollte er anknüpfen, seine Studien weiterführen und ein ausführliches Werk über diesen Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie vorbereiten. Und wie jedes Mal vor Antritt einer Reise schrieb Ludwig Salvator einen Brief an den Kaiser, worin er ihn um Erlaubnis bat. Dieses Mal war die Antwort: Nein.

Franz Josef verbot seinem jungen Verwandten die gewünschte Dalmatienreise wegen der dort und in Montenegro herrschenden Cholera-Epidemie. Obwohl Louis Pasteur und Robert Koch in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts die Erreger bereits kannten, war diese Krankheit noch nicht ausgerottet. Wenige Wochen nach der Eröffnung der Wiener Weltausstellung 1873 wurde auch die Hauptstadt der Monarchie von der letzten Cholera-Epidemie heimgesucht. Die Reisenden mussten ein anderes Ziel wählen und entschieden sich für die Balearen. Ludwig Salvator war tief traurig und enttäuscht, Baron Sforza hingegen sehr glücklich darüber, denn er glaubte, Ludwig Salvator würde anstatt zu arbeiten und zu studieren, eine ruhige und entspannte Zeit verbringen können. Wir wissen, dass er sich geirrt hat.

Der Gewährsmann

Die Reise begann am 24. Juli 1867 in Prag und führte über Toulouse, Zaragoza, Lérida, Barcelona, Valencia nach Ibiza, wo Ludwig Salvator am 11. August 1867 ankam. Mit dem Postschiff, das einmal pro Woche verkehrte, ging es weiter nach Mallorca. Auf der Überfahrt lernte er eine Schlüsselfigur für seine Arbeit kennen, Don Francisco Manuel de los Herreros y Schwager, seit 1848 Direktor des ­Instituto Balear in Palma de Mallorca. Dieser nahm sich des jungen Reisenden an, ohne dessen wahre Identität zu kennen. Als „Ludwig, Graf von Neudorf" hatte er sich vorgestellt. Die Käferwelt der Balearen wolle er erforschen, gab er als Grund für seine Reise an. Señor Herreros war fasziniert von dem Fremden, der aus gutem Hause zu sein schien, gebildet, intelligent, kultiviert, vielsprachig, wissbegierig, an allem und jeden interessiert, von ruhiger Wesensart und ernsthaft trotz seiner Jugend. Es war etwas Besonderes an ihm, das fiel dem Älteren bei der ersten Begegnung an Deck des Dampfers „Rey Don Jaime II" sogleich auf. Die sich daraus entwickelnde Freundschaft, die von gegenseitiger Wertschätzung und Zuneigung getragen war, sollte bis zum Tod des Mallorquiners 1903 dauern.

Hunderte von Briefen schrieb Herreros an den Erzherzog, anfangs auf Französisch, später in Spanisch, die Unmengen an Informationen beinhalten. Ohne ihn gäbe es „Die Balearen" wahrscheinlich nicht oder zumindest nicht in der vorliegenden Form. Er wurde zu seinem engsten Mitarbeiter, war sein Berater und Koordinator. Ihm verdankte Ludwig Salvator, der zu diesem Zeitpunkt weder Spanisch noch Mallorquinisch sprach, die Kontakte zu den Einheimischen, die für seine wissenschaftliche Arbeit und später für den Ankauf der Grundstücke und Landhäuser notwendig waren. Er führte ihn herum, zeigte ihm die Insel und versuchte, auf alle Fragen Antworten zu finden. Kisten von Material schickte Herreros in den folgenden Monaten von Palma in Ludwig Salvators kleine Wohnung in Prag.

Das Formular

Der Erzherzog bezog auch sonst die Menschen vor Ort in seine Mittelmeer-Forschungen mit ein. Nach dem Erscheinen des ersten Bandes der „Balearen" veröffentlichte er die „Tabulae Ludovicinae", eine Art Fragenkatalog von circa 100 Seiten in deutscher, französischer und italienischer Sprache, die er an Geistliche, Apotheker, Ärzte, Lehrer, Bürgermeister und Ingenieure in den von ihm bereisten Gegenden verteilte. Der Zweck dieser Tabulae bestand in der Sammlung möglichst vieler und genauer Informationen zu einem bestimmten Ort, die als Grundlage für seine Arbeiten dienten. Diese konnten nur von Einheimischen zusammengetragen werden, auch wenn Ludwig Salvator alle Orte und Inseln, die er beschrieb, tatsächlich bereist hatte. Er wusste, seine Mitarbeiter unter den Besten zu wählen und zu motivieren und in ihnen annähernd den gleichen Enthusiasmus für die Arbeit zu wecken, wie er ihn besaß. Trotz der Hilfe, die er so in Anspruch nahm, war er der Kopf des „Unternehmens". Die Texte - etwa in den weiteren acht Bänden der „Balearen" - formulierte stets er aus.