Montag, 12. Oktober: Die schmale Zufahrtsstraße zum Castell d'Alaró auf Mallorca ist gesäumt mit parkenden Autos, auch auf der Fahrbahn staut es sich. Es ist laut, voll, der Verkehr kommt zum Erliegen. Sogar Spaziergänger müssen zeitweise stehen bleiben, weil kein Weiterkommen ist. Sonntag, 1. November: An der Cala Falcó im Gemeindegebiet Manacor findet sich kaum noch ein freies Plätzchen. Etwa ein ­Dutzend Ausflüglergruppen macht in der schmalen Bucht Rast, am Strand selbst wühlen lärmende Kinder im Seegras. Sonntag, 8. November: Wer den Gipfel des Puig Galileu nahe dem Kloster Lluc allein erklimmen will, hat keine Chance. Zahlreiche Wanderer sind unterwegs, an schmalen Stellen müssen sie anhalten, um den Sicherheits­abstand zu wahren. Am selben Tag wimmelt es auch auf den Feldern vor dem beliebten Stein­eichenwald der Fonts Ufanes von Fami­lien und Hundebesitzern.

Es sind nur einige Eindrücke, die die MZ-Redakteure in den vergangenen Wochen in ­ihrer Freizeit aufgeschnappt haben. Der Ansturm der Insulaner auf die Natur ist momentan größer denn je. Viele Einheimische nutzen die freie Zeit und das schöne Wetter, um in den Bergen oder am Meer den strengen Corona-Auflagen und der Ansteckungsgefahr zu entfliehen. So viele, dass - gerade an den ­Wochenenden - von Ruhe und Ungestörtheit teilweise gar keine Rede mehr sein kann.

An einigen Orten mussten bereits die Behörden eingreifen: Schon Ende August hat das Rathaus von Deià abends den Zugang an der Aussichtsplattform beim Lochfelsen Sa Fora­dada wegen regelmäßiger Überfüllung zum Sonnenuntergang gesperrt. Seit Mitte Oktober dürfen an den Wochenenden nur noch An­wohner mit ihren Fahrzeugen im Ortszentrum der kleinen Tramuntana-Gemeinde Biniaraix zirkulieren. Ausflügler hatten die engen Gassen zuvor regelmäßig mit ihren Wagen verstopft. Und das Rathaus von Alaró verteilt seit November verstärkt Knöllchen an jeden, der seinen Wagen auf dem schmalen Weg zum Castell d'Alaró unbefugt abstellt. Auch sorgen Ortspolizisten und Freiwillige des Zivilschutzes hier nun dafür, dass die Parkplätze bestmöglich genutzt und ihre Kapazität nicht überschritten wird.

Denn rund um den Gipfel mit der schönen Aussicht war die Situation in den vergangenen Wochen oft chaotisch. „Es ist irre, samstags und sonntags rennen uns die Leute die Bude ein. Das ist fürs Geschäft natürlich gut, aber auf der Straße entsteht so ein Chaos, dass nichts mehr geht", berichtet ein Mitarbeiter des Restaurants Es Verger, das auf halbem Weg zur Burgruine von Alaró liegt. In anderen Jahren sei die Gegend um diese Jahreszeit zwar durch auswärtige Wandertouristen ebenfalls gut belebt - die relativ leichte Route spricht nämlich auch die gemütlicheren Ausflügler an. „Aber es ist kein Vergleich dazu, was hier momentan an den Wochenenden los ist", heißt es in dem Restaurant.

Verständlich und Richtig

Auch in der Balearen-Regierung ist man sich des neuen Ausflugstrends der Inselbewohner bewusst. Nicht nur, weil es an einigen Hotspots zu Verkehrsproblemen kommt, sondern auch, weil die vom Umweltministerium beauftragten Ranger die Besucherströme tagtäglich mit ansehen. „Egal ob in die Berge oder an die Küsten: Die Menschen strömen ins Freie, weil sie sich dort ungehindert bewegen können", bestätigt Jaume Vinyas, Sprecher des balearischen Umweltministeriums im Gespräch mit der MZ. Abgesehen davon, dass es an einigen Stellen logistisch eng werde, sei der Trend aber durchaus positiv zu bewerten. „Wir befür­worten es, dass die Menschen an die frische Luft gehen, statt in ihren Wohnungen zu sitzen", betont Vinyas. In einem neuen Video, das das Umweltministerium Ende vergangener ­Woche in den sozialen Netzwerken veröffentlichte, werden die Menschen sogar ermutigt, Mallorcas Natur zu erkunden. „Aber stets mit Rücksicht und Besonnenheit", heißt es dort. Wie Jaume Vinyas betont, gebe es gemessen an dem enormen Zuwachs an Ausflüglern ­bislang nur wenige Zwischenfälle, bei denen die zahlreichen Ausflügler gegen Umwelt­auflagen verstoßen.

Das glaubt auch Toni Muñoz von der balearischen Umweltschutzorganisation GOB. Der Aktivist, der sonst gern an jeglichen Trends oder Regelungen herummäkelt, gibt sich erstaunlich wohlwollend. „Es ist verständlich und richtig, dass die Menschen bei dem schönen Wetter und angesichts der Pandemie ihre Freizeit möglichst in der Natur verbringen wollen", sagt er. Schon aus sozialpsychologischer Sicht sei das absolut nachvollziehbar. Und selbst, was die Folgen für die Umwelt ­angeht, halten sich Muñoz' Sorgen in Grenzen. „98 Prozent der Menschen halten sich an die Vorgabe, dass sie auf den Wegen bleiben, ihre Hunde anleinen und keinen Müll hinterlassen dürfen", schätzt er. „Einige von ihnen haben bislang kaum Touren unternommen und sind keine erfahrenen Wanderer. Gerade sie sollten aufmerksam die Schilder in geschützten ­Gebieten lesen und sich über die Verhaltensregeln informieren." Kritischer sieht Muñoz dagegen wie eh und je die Aktivsportler. Vor allem Crossroad-Radfahrer sind ihm ein Dorn im Auge. „Aber der jetzige Trend betrifft vor ­allem Ausflügler und Wanderer."

Auch Nadal Torres, Koordinator des im Sommer 2014 gestarteten Landschaftspflegeprojekts Muntanya del Voltor, ist überwältigt von den Massen an Insulanern, die es derzeit in die Natur zieht. Auf dem mehr als 300 Hektar großen Privatgrundstück am „Mönchsgeier-Berg" oberhalb von Valldemossa, dessen ­Sorgerecht die Naturschutz-Stiftung Fundació Vida Silvestre de la Mediterrània übernommen hat, ist das Wandern nach Anmeldung erlaubt. „An den vergangenen Wochenenden haben wir samstags und sonntags etwa 700 Besucher auf unserer Finca gezählt. Normalerweise sind es um die 400." An den Wochenenden, wenn viele nicht arbeiten müssen, seien es gut 80 Prozent einheimische Besucher. Dabei machen normalerweise Urlauber den Großteil der Ausflügler aus. Auch Torres will sich nicht über den neuen Trend beschweren. Die meisten Menschen verhielten sich regelkonform, betont der Koordinator.

Verlorener Zauber

Dass dem tatsächlich so ist, bezweifelt derweil Toni Ramón. Der 77-Jährige ist seit gut 30 Jahren Wanderführer der Exkursionsgruppe des Fremdenverkehrsvereins Fomento de Turismo. Vor Corona führte er zwei Mal ­wöchentlich im Auftrag des Fomento Gruppen von bis zu 55 Personen durch die Tramuntana. Die meisten Teilnehmer waren stets Mallorquiner. „Jedes Mal musste ich aufpassen, dass keiner von ihnen Obstschalen oder gar Dosen undTaschentücher liegen lässt

", wettert er.

Überhaupt sieht er den neuen Ansturm auf die Natur kritisch. „Natürlich hat er Auswirkungen auf die Umwelt, und ich würde niemals Werbung für die Tramuntana machen. Sonst passiert uns dort irgendwann dasselbe wie mit den Stränden. Massifizierung ist nie gut. Dann verlieren die Orte ihren Zauber", findet der Mallorquiner. Bisher seien es vor allem ausländische Urlauber gewesen, die ohne geführte Gruppen Wanderausflüge auf der Insel unternahmen. „Durch neue Anwendungen auf dem Smartphone wie GPS und Wikiloc ­haben sie in den vergangenen Jahren auch ­vermehrt zu sehr abgeschiedenen Orten gefunden, die vorher verlassen dalagen."

Viele seiner Landsleute dagegen hätten bis vor Kurzem nichts mit der Natur am Hut gehabt. „Jetzt, wo sie nicht mehr abends durch die Bars ziehen können, schaffen sie es, morgens früh aufzustehen, und sind fit für Ausflüge", sagt Ramón nicht ohne Hohn. Überhaupt sei Mallorcas Gesellschaft in puncto Wandern noch in der Steinzeit. Sowohl was die Infrastruktur angeht als auch das Interesse der Mallorquiner für ihre Landschaft. „Bis vor Kurzem wurde man noch komisch angeguckt, wenn man mit Wanderausrüstung an Palmas Plaça d'Espanya", so Ramón. Am Flughafen in Frankfurt habe er mehr Wanderführer über Mallorca in einem Presseladen gesehen als hier auf der Insel. Und abseits der auch unter Insulanern mittlerweile bekannten Trockensteinwanderroute seien die Ausschilderungen noch immer unzureichend.

Verteilt euch!

Zumindest Letzterem stimmt GOB-Umweltschützer Toni Muñoz zu. „Es fehlt an vielen Stellen an Kennzeichnungen und Hinweisschildern. Und in den Gebieten, die unter besonderem Schutz stehen, fehlt es an Parkwächtern. Vor allem an den Wochenenden." Das mache sich vor allem an den Parkplätzen bemerkbar. „Gut wäre es, wenn sich die Leute, die auf der Suche nach Ruhe und Weite sind, etwas mehr verteilen." Denn an den typischen Ausflugszielen oder Wander­wegen wie dem Weg durch den Barranc de ­Biniaraix, über den man auf den Ofre-Gipfel oder bis zum Cúber-Stausee gelangt, sei man momentan ohnehin nicht unter sich.

„Wer sieht, dass ein Ausflugsparkplatz voll ist, sollte das respektieren und nicht ­versuchen, um jeden Preis doch irgendwie einen Stellplatz zu finden, sondern lieber 20 Minuten weiterfahren", rät auch Jaume Vinyas vom balearischen Umweltministerium. Vor allem in der ­Gegend um den Parc de Llevant bei Artà

Zudem sollte jedem klar sein, dass ein Ausflug in die Natur keine gänzliche Auszeit von Corona ist. Wer in sportlicher Wanderkleidung daherkommt, darf dies zwar in Gruppen von bis zu 15 Personen tun, für Spaziergänger gilt aber die Maximal-sechs-Leute-Regel, heißt es in den aktuellen Corona-Auflagen des balearischen Gesundheitsministeriums. Wer seine Maske abnimmt, wenn weit und breit kein Mensch zu sehen ist, wird sicherlich keine Probleme bekommen. Sobald man aber Fremden nahe kommt, ist sie unerlässlich.

Aus diesen Gründen hat der Fomento de Turismo seine Exkursionen seit März auch vorübergehend eingestellt. Viele der Teilnehmer organisierten sich jetzt privat, weiß Wanderführer Ramón. Auch ihn hält es nicht zu Hause. „Ich habe es einfach im Blut", sagt er. Statt in Großgruppen ist er nun aber nur mit seiner Frau unterwegs. „Und ausschließlich unter der Woche. Am Wochenende käme es für mich gar nicht infrage", so der Rentner, der sich schließlich versöhnlich gibt. „Natürlich kann ich verstehen, dass die Menschen rauswollen."

Nachhaltig wertschätzen

Toni Muñoz von der Umweltschutzorganisa­tion GOB hofft, dass der Ausflugstrend nicht nur aktuell dem Gemüt der Menschen guttut, sondern auch dazu führt, dass mehr Menschen den Wert der Natur nachhaltig schätzen lernen. „Es wäre schön, wenn sich eine gewisse Sensibilität einstellt, die auch in Zukunft haften bleibt. Sowohl bei den Bürgern als auch bei den Politikern." Vor allem, da aufgrund der wirtschaftlichen Situation davon auszugehen sei, dass in den kommenden Jahren viele ­öffentliche Gelder in soziale Bereiche statt in den Umweltschutz fließen. „Vielleicht erinnert sich der ein oder andere ja dank seiner ­Exkursionen daran, wie wichtig auch die natürlichen Ressourcen sind und wie sehr wir die Umwelt brauchen."

Torres vom Projekt Muntanya del Voltor kann sich gut vorstellen, dass der momentane Drang in die Natur das Bild vieler Mallor­quiner auf ihre Insel nachhaltig verändern könnte. „Viele haben ihr Leben hier verbracht, ­kannten aber viele Ausflugsziele gar nicht. Ich bin mir sicher, dass einige auch dauerhaft auf den Geschmack kommen."