Die Startbahn, ein Stück Asphalt vor der Böschung, misst gerade einmal vier Meter. Für Emilio Gómez scheinbar ausreichend. Nach mehrmaligem Luftholen nimmt der 61-jährige Taxifahrer aus Port de Pollença schließlich Anlauf. Ein, zwei, drei Schritte - und schon hebt er ab. Diesmal jedoch keinesfalls nach Lehrbuch. „Ich habe den Schirm irgendwie verkehrt am Wind gehalten", wird Gómez später bei seiner Rückkehr als Grund dafür nennen, warum er beim Take-off erst einmal etliche Meter den mit Farngras und Stechpalmen bewachsenen Hang hinuntertrudelte, haarscharf an spitzkantigen Felsvorsprüngen vorbei, um kurz vor dem Abgrund dann die Kurve zu kratzen - hinauf in den bewölkten Februarhimmel.

Purer Adrenalin-Flash für Gómez' Publikum, das an diesem Sonntagmittag aus etwa einem Dutzend einheimischen Freizeitwanderern in Jogginghosen und Fleece-Pullis besteht. Und die nach ihrem einstündigem Marsch hinauf zum Puig de Sant Martí weitgehend unverhofft das spektakuläre Auf und Ab von Gómez und anderen Gleitschirmfliegern bestaunen.

Der knapp 260 Meter hohe und mit Mobilfunk-Antennen gespickte Gipfel, rund drei Kilometer außerhalb von Port de Alcúdia, zählt seit Jahren nicht nur als beliebtes Ausflugsziel, sondern vor allem als Hotspot der mallorquinischen Paragliding-Szene. „Es gibt kaum einen anderen Ort auf der Insel mit derart idealen Bedingungen", schwärmt Gómez, der sich vor etwa vier Jahren das erste Mal traute, an einem Drachenschirm baumelnd in die Luft zu steigen. Im Gegensatz zu ähnlichen Gleitsegel-Airports wie der Steilküste am Cap Blanc, den östlichen Berghängen der Serra de Llevant oder den nach Port de Pollença zugewandten Felsklippen auf der Halbinsel Formentor biete der Puig de Sant Martí aufgrund der hier vorherrschenden Windverhältnisse die Möglichkeit, fast das ganze Jahr über zu fliegen.

Um das zu verstehen, bedarf es eines kleinen Ausflugs in die Physik. Wind ist nicht gleich Wind. Dass er manchmal von vorne, von hinten oder von der Seite bläst und pfeift, dürfte allgemein bekannt sein. Luftmassen zirkulieren rund um die Welt aber nicht nur in Form von Böen, Sturm, Tornados oder Orkanen, sondern per­manent - zu jeder Tages- oder Nachtzeit. Entscheidend für ihre Richtung und Stärke sind die ­jeweils am Boden und in der Luft vorherrschenden Temperaturen. „Beim ­Paragliding unterscheidet man zwischen Höhen-, Thermik- und Talwind", erklärt ­Gómez. „Alle drei Arten wirken sich beim Flug mit dem Gleitschirm unterschiedlich aus."

Höhenwinde beispielsweise finden sich, wie ihr Name bereits vermuten lässt, in Atmosphärenbereichen von mehr als 1.000 Metern. Sie zirkulieren in unterschiedlichen Höhen als Luftströme in horizontalen Richtungen von Ost nach West oder von Nord nach Süd und ermöglichen, nicht motorisierten Flugapparaten wie Gleitschirmen, Drachenfliegern oder Heißluftballons, längere Distanzen ohne Bodenberührung zu fliegen. „Erfahrene ­Paraglider-Piloten können auf diesen ­Luftstrom-Autobahnen am Himmel die ­gesamte Insel umrunden", sagt Gómez.

Im Gegensatz zu Höhenwinden, deren Stärke und Richtung sich von trägeren Luftdruckveränderungen in hohen Atmosphärenbereichen abhängen, beruhen Thermikwinde auf kurzzeitigen Temperaturunterschieden auf der Erdoberfläche. Klassisches Beispiel ist die Windentwicklung an einem heißen Sommertag am Strand von Es Trenc. Während das Meerwasser bei Tagesbeginn länger dafür benötigt, heizt die Sonne das Land am Ufer im Laufe des Vormittags sehr viel schneller auf. Die dabei entstehende Warmluft steigt nach oben und „saugt" die kühleren Luftmassen über dem Meer hinterher. Folge: Es entsteht ein landeinwärts wehender Wind. Und der ist perfekt zum küsten­nahen Segeln.

Thermikwinde sind aber auch beim Gleitschirmfliegen, insbesondere bei teilbewölktem Himmel, entscheidend für den Spaß am Himmel. Dann steigt die nur an ­einem Punkt auf der Erde erwärmte Luft als Art Fahrstuhl nach oben. „Thermik- oder Talwinde ermöglichen es erst, für lange Zeit oben zu bleiben", sagt Gómez. Er selbst sei schon bis zu sechs Stunden lang ohne Unterbrechung geflogen. Langweilig sei es ihm dabei nicht geworden. „Man verliert da oben sehr schnell jegliches Gefühl von Zeit und Raum. Das Gefühl, wie ein Vogel durch die Luft zu schweben, nur das ­Rauschen des Windes wahrzunehmen, lässt einen alles andere vergessen."

Als Anfänger habe es ihn überrascht, wie einfach es sei, das Fliegen am Drachenschirm zu lernen. „Ich habe damals einen Intensivkurs gemacht." Eine Woche dauerte es, bis Gómez, der zuvor allerdings schon einige Jahre als Drachenflieger am Himmel unterwegs war, die notwendigen Kenntnisse zur Beherrschung des Gleitschirms erlernt hatte. Neben dem Know-how beim Umgang mit Seilen und Steuergriffen für die Flugmanöver ist ­meteorologische Grundwissen Voraussetzung, um an den Start zu geben.

Zur Ausrüstung gehören neben Schirm, Leinen, Trapezsitz und Helm auch technische Gadgets, wie GPS, Geschwindigkeits- und Höhenmesser. „In der Luft kommunizieren wir mithilfe eines Walkie-Talkies. Das ist auch dann hilfreich, wenn man nach der Landung abgeholt werden will", erklärt ­Gómez.

Das größte Risiko berge die Landung. „Der Landeplatz muss vor dem Start ge­nauestens festgelegt sein. Aber auch beim Fliegen muss er stets im Auge behalten werden, jede mögliche Verschiebung zum Kurs vor jedem ­Flugmanöver ein­kalkuliert werden." Stromleitungen, Weidenzäune oder Wasserhindernisse in unmittelbarer Nähe des Landeplatzes seien ein absolutes No-Go.

Die Firma „MallorcaFly" mit Büros in Palma und Port de Pollença bietet ganzjährig Paragliding-Kurse an.