Wer eine der größten Fundstätten Mallorcas aus prähistorischer Zeit besuchen möchte, kommt 50 Jahre zu spät. Damals, im Sommer 1971, wurde die weitläufige Anlage aus talaiotischer Zeit, die sich zwischen Palma de Mallorca und dem heutigen Gewerbegebiet Son Oms befand, im wahrsten Sinne des Wortes plattgemacht: Sie musste der zweiten Landebahn des Flughafens weichen. Nur ein kleiner Teil konnte abgetragen und verlegt werden, bei dem Versuch ­zerbrachen viele der geschichts­trächtigen Steinquader. Der Großteil des denkmalgeschützten Komplexes fiel schließlich den Baumaschinen zum Opfer.

Foto: Arxiu del Museu de Mallorca

Die Landebahn diente als „Tatwaffe" für ein Verbrechen, das nun leider verjährt ist, formuliert es der frühere Vize der MZ-Schwesterzeitung „Diario de Mallorca", Joan Riera. Das zwar in Fachkreisen nie vergessene, aber in der allgemeinen Öffentlichkeit verdrängte Kapitel der jüngeren Geschichte Mallorcas ist ein Beispiel dafür, was der Massentourismus in Reinform anrichten kann. Während andere Exzesse auf der Insel erfolgreich abgewehrt werden konnten - etwa ein Hotelkomplex auf der Insel Sa Dragonera - oder aber ein Opfer der Spekulation wurden - etwa die „Isla Ravenna"die „Isla Ravenna" -, schlugen die Archäologen hier in den 70er-Jahren erfolglos Alarm. Auch die Appelle in den damaligen Medien blieben ungehört. Die Inselbehörden blieben inaktiv, in Madrid hatte noch Diktator Francisco Franco das Sagen, und der Tourismus versprach nun mal wirtschaftlichen Wohlstand.

Foto: Arxiu del Museu de Mallorca

Die Fundstätte, wie sie im Jahr 1971 bestand, war nur noch ein Bruchteil der eins­tigen Anlage, die sich über rund 10.000 Quadratmeter erstreckte. Verblieben war von den einst wohl mehreren Hundert Gebäuden noch ein knappes Dutzend, darunter ein zeremonieller Bau (santuario), ein Talaiot, wie die für die Epoche typischen runden Turmbauten heißen, eine Grabkammer (túmulo) mit ge­stuften Außenwänden und 25 Metern Durchmesser, in dessen Innern mehrere Skelette gefunden worden waren, eine Nekropolis mit in Stein- und Tonurnen bestatteten Kinderleichen, ein Gebäude, das wegen seiner verwinkelten Bauweise als laberinto dokumentiert wurde, sowie etwa auch Reste eines zwei­stöckigen Baus, dessen Decken von Säulen getragen wurde. „Es war der wichtigste Komplex der talaiotischen Kultur auf Mallorca", urteilte Lluís Pericot in einem Artikel des „Diario de Mallorca" im Februar 1971. Der im Jahr 1978 verstorbene Archäologe galt als Koryphäe der prähistorischen Zeit auf der Insel.

Siedlung direkt am Meer?

Erbaut worden war die Siedlung ab dem Jahr 1200 vor Christus. Sie dürfte bis ins zweite Jahrhundert nach Christus bewohnt gewesen sein. Sie entstand also in einer Zeit, als von Palma noch nichts existierte: Die Stadt wurde laut Überlieferung erst im Jahr 123 vor Christus von den Römern gegründet, wobei die ältesten archäologischen Zeugnisse aus der Zeit 50 vor Christus stammen. Bevor die Römer kamen, war Son Oms nach Einschätzung von Guillem Rosselló Bordoy, der die dortigen Ausgrabungen zusammen mit Pericot koordinierte, „eine der ausgedehntesten Siedlungen im Süden Mallorcas". Womöglich bestand in dieser Zeit sogar ein direkter Zugang zum Meer, schreibt der Forscher Domingo C. Hernández von der spanischen Fernuniversität UNED in einem Artikel der spanischen Fachzeitschrift „ArtyHum" von Februar 2019. Son Oms lag damals in einem Feuchtgebiet.

Foto: Arxiu del Museu de Mallorca

Die Fundstätte war dann über viele Jahrhunderte hinweg dem Zerfall preisgegeben. Im 20. Jahrhunderte beschleunigte sich ihr Niedergang massiv - noch bevor Spaniens staatliche Flughafenverwaltung Aena auf den Plan trat. Nach der Trockenlegung des Feuchtgebietes im 19. Jahrhundert wurde das Hinterland der Playa de Palma parzelliert und zur landwirtschaftlichen Vorratskammer ­umfunktioniert, die vielen Windmühlen, die einst den Bauern zur Wasserförderung ­dienten, zeugen noch heute davon. „Die ­landwirtschaftliche Nutzung des Geländes blieb nicht folgenlos für die Ausgrabungs­stätte", so Hernández. „Wir können davon aus­gehen, dass sie ein ähnliches Schicksal erlitt wie andere Fundstätten, die als Steinbruch für ­modernere Bauten in der Umgebung dienten."

Foto: Arxiu del Museu de Mallorca

Die Zeit drängt

Die Wissenschaft widmete sich der Fundstätte erst Ende der 50er-Jahre intensiv. Zwischen 1958 und 1964 fanden Ausgrabungsarbeiten statt, die Finanzierung übernahm die Stiftung March. In dieser Zeit wurde der Komplex auch unter Denkmalschutz gestellt, als „Monumento Nacional" sogar auf eine Ebene wie Palmas Kathedrale - was ihm nicht viel helfen sollte.

Danach richtete sich das Augenmerk der Forscher zunächst auf andere Ausgrabungsstätten der Insel, wenn auch nur für kurze Zeit: Als 1969 die Pläne zur Erweiterung von Palmas Flughafen bekannt wurden, kehrten die Archäologen schnell nach Son Oms zurück. Angesichts der stetig steigenden Touristenzahlen mussten sie befürchten, dass die Bulldozer jederzeit anrücken konnten. Ausgegraben wurde nun im Eiltempo, manche wichtige Funde wurden erst jetzt gemacht. So fanden sich im Grabhügel bislang unentdeckte Räume. Zwischendurch mussten die Arbeiten aber auch längere Zeit unterbrochen werden, als nach heftigen Regenfällen Teile des Pla de Sant Jordi unter Wasser standen.

Foto: Arxiu del Museu de Mallorca

Immerhin: Die Behörden gewährten etwas Aufschub, und die Flughafenverwaltung beteiligte sich an den Kosten für die Erforschung in letzter Minute. Es ging jetzt nicht nur um Suche und Erfassung, sondern vor allem darum, Teile der Ausgrabungsstätte zu verlegen. In aller Eile wurden Pläne gefertigt, die heute im Castell Bellver ausgestellt sind. Die Steine wurden durchnummeriert, um sie in der richtigen ­Reihenfolge wieder zusammensetzen zu können. Doch die massiven Brocken waren weder einfach zu bewegen noch besonders stabil. „Die Steinplatten zerbrachen in viele Teile, sobald man sie bewegte", kommentierte Archäologe Pericot das zermürbende Vorhaben.

Foto: Arxiu del Museu de Mallorca

Als die Frist im März 1971 ablief, war die ­Bilanz ernüchternd. Von knapp 500 markierten Brocken konnten nur 80 rechtzeitig weggeschafft werden. Und nur sechs von ihnen blieben im Ganzen erhalten. Nur das Santuario wurde letztendlich verlagert, ein gut zehn mal zehn Meter großes Bauwerk, das als einziges vor den Baumaschinen gerettet wurde.

Diese nahmen ihre Arbeit im Sommer 1971 auf. Die Arbeiten kamen gut voran und wurden 1974 abgeschlossen. Inzwischen hatte sich aber gezeigt, dass die Landebahn gar nicht so dringend war. In der Ölkrise von 1973 waren die Flüge teurer geworden, viele Urlaubsreisen wurden vertagt. Bis die neue Landebahn ­offiziell eingeweiht wurde, vergingen noch einmal mehr als zehn Jahre - Zeit, in der die Ausgrabungsstätte hätte erforscht und gerettet werden können. Die Franco-Zeit war längst zu Ende, in Spanien regierten inzwischen die Sozialisten. „Es sollte bis 1987 dauern, bis ein Minister sich traute, die Piste einzuweihen", schreibt Journalist Riera. Die ersten Urlauber seien erst im Sommer 1988 hier gelandet.

Überreste im Gebüsch

Seinen neuen Standort fand das Santuario neben dem Airport-Zubringer. Praktisch nicht zu sehen sind die Überreste von der Flughafen-Autobahn aus, bei einem Blick nach rechts auf der Fahrt in Richtung Llucmajor. Um das Santuario vor Ort in Augenschein zu nehmen, muss man den genauen Standort kennen, um vom Airport aus bei der Abfahrt in Richtung Santanyí an einer Stelle ohne Leitplanken rechts ranzufahren und sich durch die Büsche zu schlagen. „Leider gibt es kein Schild und ­keinen Hinweis auf seine Existenz", schreibt Hernández in seinem Artikel. „Deswegen weiß auch kaum jemand, dass sich hier die Reste eines außergewöhnlichen und einzigartigen Fundorts befinden, die im Namen des Fortschritts weichen mussten."