Jaume Santandreu läuft an diesem Montagvormittag (11.10.) mit seinem Gehstock in kleinen Schritten durch die 1.400 Quadratmeter große Verkaufshalle in Palmas Gewerbegebiet Can Valero. Er zeigt in eine Ecke mit Gemälden, lässt seinen Blick dann weiter zu restaurierten Möbeln, Porzellanfiguren und Kronleuchtern an der Decke schweifen. Die Wehmut ist ihm anzumerken. „Es ist wirklich schade, dass wir zumachen müssen“, sagt der ehemalige katholische Priester, der den Secondhandmarkt Marginalia vor zwölf Jahren ins Leben gerufen hat.

Ende November ist jetzt Schluss. Zwar können derzeit noch Sammler hier Schätze heben. Aber Hotels und Privatpersonen müssen ihre Einrichtungsgegenstände jetzt woanders loswerden. Der Vintage-Markt war Teil eines Projekts für sozial ausgegrenzte Menschen: Can Gazà, ein kleiner Bauernhof hinter dem Krankenhaus Son Espases, auf dem Santandreu seit 2003 mit ehemaligen Suchtkranken zusammenlebt. Ein Großteil der Bewohner – die gesündesten unter ihnen – arbeiteten beim Non-Profit-Projekt Marginalia mit, restaurierten etwa Möbel in der Werkstatt.

Jaume Santandreau hat Can Gazà und auch Marginalia gegründet. Bendgens

Sich Würde erarbeiten

„Durch Arbeit Würde erlangen“, war hier über Jahre hinweg das Motto, erklärt der Geistliche. Der 83-Jährige wird nicht müde zu betonen, dass sich am Rande der Gesellschaft lebende Menschen immer besser fühlen, wenn sie für ihren Unterhalt auch arbeiten. „Wenn sie am Esstisch sitzen, sollen sie sagen können: ‚Dieses Gericht habe ich mir selbst erarbeitet, es wurde mir nicht geschenkt‘.“

Doch viele der Ausgegrenzten, marginados, wie der Mallorquiner sie nennt, wollen nicht mehr bei Marginalia arbeiten. Das habe er seit knapp zwei Jahren zunehmend feststellen müssen. Für ihren Einsatz in der Verkaufshalle bekommen sie eine Art Taschengeld, dürfen kostenlos in der Obdachlosenunterkunft leben und werden dort versorgt. „Ob Mallorca sense fam, SOS Mamas, Tardor oder Cruz Roja ... Auf Mallorca bekommen sie mittlerweile an hundert Anlaufstellen auch ohne Gegenleistung Hilfe. Seit der Pandemie ist die Tendenz steigend“, erklärt sich Santandreu das zunehmende Desinteresse vonseiten der marginados, auf die er dennoch keine Wut habe. Direkt erzählt hätten sie ihm von ihrer Unlust nicht. „Ein marginado spricht nie, er handelt einfach. Auch die Worte ‚Danke‘ und ‚Entschuldigung‘ kennt er nicht“, so Santandreu. Daran habe er sich aber längst gewöhnt.

Daneben tragen auch andere Gründe zur Schließung bei. Die Monate im Frühjahr 2020, in denen der Non-Profit-Markt wegen Corona geschlossen bleiben musste, haben dem Projekt zugesetzt. „5.000 Euro kostet die Miete inklusive Nebenkosten pro Monat“, erklärt Santandreu. Einen Teil davon übernimmt der Inselrat. Der Rest wird über die Verkaufserlöse und Spenden bestritten. Aber ohnehin will der Eigentümer die Halle verkaufen – eine Nachricht, angesichts der man erst geschluckt habe, die aber letztendlich bei der Entscheidung auch geholfen habe.

„Wenn die Mitarbeiter Interesse gezeigt hätten, dass wir weitermachen, hätten wir einfach wieder einen anderen Ort gesucht“, sagt Santandreu. Es wäre nicht der erste Umzug des Secondhandmarktes gewesen: Von seiner Gründung vor zwölf Jahren an war er zunächst sechs Jahre lang auf der privaten Finca Sa Casa Llarga ansässig. Nach einer damals sehr wohl überraschenden Kündigung durch den Besitzer, gegen die Santandreu mit viel Einsatz protestiert hatte, zog er im Jahr 2015 in die Halle im Gewerbegebiet Can Valero.

Bitte nichts mehr bringen!

Derzeit nimmt das Team um den Mallorquiner keine Einrichtungsgegenstände mehr an. Auch zu Hotels oder Wohnungen fahren die Mitarbeiter nicht mehr, um Möbel abzumontieren und abzutransportieren. Das sei bis zuletzt eine der Haupteinnahmequellen des Non-Profit-Projekts gewesen sowie für Immobilienagenturen, die Objekte leer vermieten wollen, eine günstige Räumungsmöglichkeit. „Normalerweise kostet es rund 2.000 Euro, eine Wohnung leer zu räumen. Wir haben es umsonst gemacht.“

Ganz nach dem Motto „Nichts mehr herbringen, aber alles mitnehmen“, wollen die Verantwortlichen bis Ende November nun noch so viele Einrichtungsgegenstände wie möglich verkaufen. Die Preise, die auf ihnen kleben, sind eher symbolisch. Offiziell werden nur „Spenden“ angenommen. „Von dem Erlös werden wir in Can Gazà hoffentlich ein Jahr lang leben können“, so Santandreu. Die rund drei Kilometer entfernte, in Secar de la Real ansässige Unterkunft für ehemalige Suchtkranke bleibt im Gegensatz zu Marginalia weiterhin geöffnet.

Rund 15 Bewohner sind dort derzeit untergebracht. „Sie haben alle einen Entzug hinter sich, sind von der Straße zu uns gekommen, haben keine Familie mehr, die sich um sie kümmert, und ihre frühere Heroin-, Kokain- oder Alkoholabhängigkeit hat schwere Spuren hinterlassen. Hier leben wir nun wie eine Familie zusammen“, erzählt Santandreu. Unterstützung bekommt er von Sozialarbeiterin Cati Castell, der einzigen Frau bei dem Projekt, und deren Bruder Miguel Ángel Castell.

Miguel Ángel Castell ist seit der ersten Stunde beim Projekt dabei. Bendgens

Genug zu tun im Haus

Nach der Schließung von Marginalia werden nun bald die Aufgaben im Haus, mit den Tieren sowie im Nutzgarten neu verteilt unter den Bewohnern, die noch mit anpacken können. Um die Koordination der Koch-, Putz- und Ernteteams kümmert sich Miguel Ángel Castell. „Ich bin nicht traurig über die Schließung, weil ich ja weiterhin im Haus tätig bin. Und Arbeit gibt es dort genug“, so der Mallorquiner, der gerade mit einem weiteren Mitarbeiter noch die letzten Möbel in der Werkstatt im hinteren Teil der Halle herrichtet.

Bis zur Jahrtausendwende hatte Castell auf Mallorca noch mehrere locutorios betrieben, Telefon- und Internetläden. Dann lernte er Jaume Santandreu kennen und stieg ins Projekt mit ein. Er kennt die Stammkunden alle beim Namen, auch einen älteren Herrn mit Brille, der gerade vorbeischaut. „Ich komme seit dem ersten Tag zu Marginalia, kaufe vor allem alte Bücher für meine umfassende Bibliothek“, erzählt der Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Er sei auch mal in Can Gazà zu Besuch gewesen. Wenn er an einen Tisch dort denke, der voller Tabletten gewesen sei, bekomme er noch heute Gänsehaut, erzählt er und krempelt seine Ärmel hoch. Er habe kürzlich selbst zwei Schlaganfälle erlitten, wisse also, was für ein hohes Gut die Gesundheit sei.

Im vorderen Teil des Ladens kümmert sich derweil José Antonio Serrano darum, Kleidungsstücke auf Kleiderbügeln an den Mann zu bringen. Nur rund 30 Prozent der Textilspenden gehen in den „Verkauf“. Serrano lebt seit 25 Jahren auf Can Gazà und ist ebenfalls seit der ersten Stunde bei Marginalia dabei. „Bald werde ich wohl wieder putzen und kochen, wie schon während der Ausgangssperre. Nach zwölf Jahren hier finde ich es sehr schade, dass die Verkaufshalle schließt.“ Viele Kunden sähen das ähnlich, versichert Serrano.

José Antonio Serrano kümmert sich um die Kleiderabteilung. Bendgens

An der Verkaufstheke, hinter der er steht, kann er sich gut festhalten, wenn er beim Stehen das Gleichgewicht verlieren sollte. Der ausgebildete Metzger leidet seit seinem ersten Lebensjahr an Polio. Später verfiel er dem Alkohol, verlor immer wieder seinen Job, woraufhin ihn seine Eltern vor die Tür setzten, wie er erzählt. In Can Gazà fand der 63-Jährige dann schließlich ein neues Zuhause.

Ob Santandreu und er letztlich für alle gelagerten Artikel Abnehmer finden, bleibt ungewiss. Ohnehin ist ihnen so manches Unikat ans Herz gewachsen. Santandreus absoluter Liebling ist deswegen schon in Sicherheit gebracht: eine neugotische Nordholz-Heiligenstatue, die Theresia vom Kinde Jesus und vom heiligen Antlitz zeigt. „Da ich nicht will, dass sie auf der Straße landet, habe ich den Vorstand der Gemeinde Santa Teresita in Son Armadams kontaktiert. Er hat mir zugesagt, dass er sie abholt“, so Santandreu.

Er hat sich auf einen der vielen Sessel gesetzt und wirkt zufrieden.

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Marginalia

Carrer d’Asival, 4, Palma, Mo.–Sa. 9–13 Uhr oder nach Terminvereinbarung unter Tel. 608-86 28 92. cangaza.cat