Das schwergewichtige Buch steht im krassen Gegensatz zu seinem Inhalt. „Diàspores“ besticht durch großformatige Fotos von extrem vergrößerten Samen, die durch die Luft schweben, ergänzt durch kleinere Fotos, bei denen die semillas noch im Innern ihrer Kapseln sitzen. Beim Durchblättern der 548 Seiten stellt sich die Frage, ob es sich hier tatsächlich um Wunder der Natur handelt oder um Kunstobjekte, die sich durchaus an einem Mobile des Künstlers Alexander Calder sehen lassen könnten.

Die Samen des Zottigen Weideröschens (Epilobium hirsutum) reifen im Herbst. Sie bewegen sich mit seidigen Fäden im Wind. Josep Bonet

Der Bildband

„Solche Vergrößerungen hat man noch nie gesehen“, sagt der Autor des neuen Bildbandes und ehemalige Leiter des Jardí Botànic de Sóller (JBS) Josep Lluis Gradaille (75). Der Botaniker hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt über Sóllers Blumenmalerin Colette. Gradaille übernimmt in „Diàspores“ die botanische Zuordnung der Fotografien.

Das Bildmaterial stammt vom mallorquinischen Fotografen Josep Bonet (71), eine Koryphäe auf dem Gebiet der Makrofotografie. Bonet, der in technischen Berufen tätig war, hat ebenfalls schon für den JBS gearbeitet, er und Gradaille kennen sich schon lange.

Die Autoren des Buches: Fotograf Josep Bonet (li.) und der Botaniker Josep Lluis Gradaille. Nele Bendgens

Der Titel des gemeinsamen Buches „Diàspores: Fruits i llavors de la Flora balear. Dispersió“, kann frei mit „Die Verbreitung von Früchten und Samen der balearischen Flora“ übersetzt werden. Die Techniken, derer sich die Wildpflanzen bedienen, um neue Standorte zu erreichen, sind zudem die Basis für die Gliederung: Die Kapitel der einzelnen Verbreitungsmöglichkeiten sind bereits verschiedenfarbig am Schnitt des Buchblocks zu erkennen.

Die Verbreitung

Schon Kleinkinder wissen es: Der kugelförmige Samenstand des Löwenzahns wartet nur darauf, mit einem Windstoß in alle Richtungen gepustet zu werden. Viele der Angiospermen, wie Botaniker blühende Pflanzen nennen, verbreiten sich durch den Wind. Ein Beispiel dafür ist auch das Zottige Weideröschen (Epilobium hirsutum) dessen Samen an seidigen Fäden mithilfe des Winds zu ihren neuen Standorten in Feuchtgebieten schweben.

Bei manchen Pflanzen ist die Schwerkraft dann mit im Spiel, wenn reife Früchte mit Samen darin zu Boden fallen. Dort keimen sie, oder aber sie machen sich in den Mägen von Säugetieren, Insekten oder Vögeln auf den Weg. Gradaille erzählt, dass er tagelang von einer Bank im JBS den riesigen Fruchtstand einer Magnolie (Magnolia grandiflora) beobachtet hat, bis endlich eine Amsel kam, um die roten Samen aus der geöffneten Kapsel zu picken.

Außerdem gibt es Gewächse, denen es ohne fremde Hilfe gelingt, ihre Samen meterweit zu schleudern. Bei dem Gewöhnlichen Hirtentäschel (Capsella bursa-pastoris) ist der Moment festgehalten, in dem die Schote explosionsartig aufspringt, um sich zu vermehren.

Die kugeligen Blüten der Wilden Karde (Dipsacus fullonum) sind bei Bienen und Hummeln sehr beliebt. Danach entwickeln sich die Samen in fächerartigen, sternförmigen Gebilden. Josep Bonet

Einige wenige Pflanzen werden zudem durch den Menschen verbreitet. So sind beispielsweise im Buch die Samen des Nickenden Sauerklees (Oxalis pes-caprae) zu sehen, der von Südafrika auf die Balearen eingeschleppt worden ist und sich hier invasiv ausbreitet.

Pflanzen, die am Meer wachsen, gelingt es hingegen, mittels schwimmfähiger Samen neue Ufer zu erreichen. Die Dünen-Trichternarzisse (Pancratium maritimum) zum Beispiel packt ihre dunklen Samen in dünne Häutchen, die ihnen das Schwimmen im Meer ermöglichen. Bei der Buckligen Wasserlinse (Lemna gibba), deren Früchte weltweit zu den winzigsten zählen, ist es Bonet gelungen, sie mitsamt ihren dünnen Wurzelfäden aufzunehmen.

Das Fotostudio

Josep Bonet fotografiert seit vier Jahrzehnten. Im Laufe der Zeit hat er sich immer stärker auf den Prozess konzentriert, mit dem sich die Samen nach der Blüte aus Kapseln, Hüllen, Hülsen oder Schoten lösen (anfangs sind sie noch durch feine Haarstängel verbunden). Dabei setzt Bonet auch Infrarotlampen ein, um die Loslösung zu beschleunigen. Diese aufwendigen „Fotoshootings“ protokolliert er, denn es kann passieren, dass er zwei Tage auf den richtigen Moment warten muss.

Für die Aufnahmen der Winzlinge baute sich Bonet ein Fotostudio im Miniaturformat. Seine Größe beschreibt er während des Interviews mit den Händen „un palmo por cada lado“ und meint damit je eine Handspanne für die Höhe, Breite und Länge, was für jeweils etwa 18 Zentimeter steht. Wie ein Profistudio ist es mit Blitzlicht, Aufhellern und variablen Untergründen ausgestattet. Weil Bonet für seine oft nur Millimeter großen Fotomodelle keine geeigneten Kameras finden konnte oder ihm diese zu teuer waren, baute sie der Tüftler selbst.

Die Flügelsamen des Granada-Ahorns (Acer granatense), der einzigen Ahornart, die im Mittelmeerraum wild wächst. Josep Bonet

Die Models

Auf die Frage, ob die Autoren mit einem Korb in der Hand auf Wiesen unterwegs gewesen waren, um die Objekte zu sammeln, lachen die beiden. Man fände trockene Pflanzen überall, sagen sie. So käme der Portulak (Portulaca oleracea) in Gemüsegärten, an Trottoirs und an Wegrändern vor. „Und ich bin der Neurotiker, der sich zu den Pflanzen beugt und sie unter die Lupe nimmt“, sagt Bonet. In der Vergrößerung sehe die Portulak-Hülse wie eine Zipfelmütze aus, die Brombeeren ähnelnden Samen drängten sich nach dem Aufplatzen ins Freie.

Die Samenbank des JBS konnte nicht dienen, weil dort ausschließlich Samen lagern, doch die Gärtner des Botanischen Gartens riefen die Autoren an, wenn mit dem Öffnen der Kapseln zu rechnen war. Auch sonst ist der Beitrag des JBS nicht zu unterschätzen: Die Stiftung des Jardí Botànic hat den Druck der Auflage finanziert, und sie ist auch für den Verkauf des Buches (65 Euro) sowie für den Online-Versand zuständig.

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Die Bilder und die Texte des Buches sollen die Aufmerksamkeit der an Botanik Interessierten für all das wecken, was für die Vermehrung wichtig ist. Die Artenvielfalt der einheimischen wilden Flora sei in Gefahr, warnt Gradaille. Er selbst habe früher beobachtet, dass eingeschleppte Pflanzen aus tropischen Zonen die Kälte des Januars und Februars nicht überstanden. Heute überlebten sie die warmen Inselwinter und konkurrierten mit der einheimischen Flora. Ihnen könnten nur flexible Pflanzen Paroli bieten, deren Samen oder Sporen sich von der Mutterpflanze entfernen und sich zu neuen Standorten aufmachen, um sich dort niederzulassen und neu auszutreiben.

Der Gewöhnliche Siegwurz (Gladiolus communis) färbt zurzeit die Wiesen rot. Danach bildet die Pflanze spektakuläre Hülsen, aus denen braune Samen fallen, die von einer hellen Membrane umgeben sind. Josep Bonet