Von Holger Weber

Wie kam es, dass in Ländern mit so verschiedenen sozialen Hintergründen und unterschiedlichen Regierungsformen die Studenten zur gleichen Zeit auf die Straße gingen?

Im Jahr 1968 endete endgültig die Nachkriegszeit. In Europa hatte sich eine Konsumgesellschaft mit hedonistischen Zügen etabliert - vor allem in Ländern wie Deutschland und Frankreich sahen die Menschen keine unmittelbare Gefahr eines neuen Konfliktes mehr. Nehmen Sie Frankreich: Dort war mit dem Ende des Algerienkrieges ein 150 Jahre langer kriegerischer Zyklus zu Ende gegangen, der mit den Napoleonischen Kriegen begonnen hatte. Die Jugend erfreute sich erstmals in der Geschichte einer gewissen Sorglosigkeit mit vielen Freiheiten. Sie strömte massiv in die Universitäten, die bis dahin nur einer winzig kleinen Elite vorbehalten gewesen waren. Der Wohlfahrtsstaat ermöglichte jetzt auch den unteren Schichten den Zugang zur Bildung.

Den Kern der Bewegung bildeten jedoch die begüterten Studenten.

Das ist in der Geschichte nicht neu: Marx und Lenin beispielsweise stammten ebenfalls aus gutem Haus. Dennoch sorgten sie sich um die Gesamtheit der Gesellschaft. Im Mai 1968 waren es vornehmlich die Studenten, die diese Rolle einnahmen. Die Protestbewegung war keine klassische soziale Revolution, die ihren Ursprung in der Arbeiterbewegung hatte. Das, was im Mai 1968 passierte, war eine kulturelle Revolution im weitesten Sinne des Wortes. Es ging darum, die Lebensqualität der Menschen zu verbessern.

Welche Rolle spielten die Medien?

Eine sehr große. Bei den 68ern handelte sich um die erste Generation, die nicht nur in der Schule, sondern auch von den Medien erzogen wurde. Durch die Musik, die durch preiswerte Plattenspieler und Radios verbreitet wurde, entstand eine Gegenkultur, die die Jugendlichen über die Grenzen hinweg verband. Die Medien hatten auch einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung des Vietnamkriegs, über dessen Grauen quasi unzensiert berichtet wurde. In keinem anderen Krieg hatte die Presse einen so direkten Zugang zur Front wie in Vietnam.

Inwieweit nahm die Bewegung in Deutschland eine Sonderrolle ein?

In Deutschland stand zu dieser Zeit die erste Generation auf der Straße, die mit der Scheinheiligkeit der Elterngeneration brechen und deren Verstrickung in das Dritte Reich anklagen konnte und wollte. Diese Selbstreinigung musste kommen. Ansonsten hatte die Bewegung in Deutschland die gleichen Merkmale wie anderswo.

Der Protest richtete sich gegen die autoritären Strukturen jener Zeit. Viele Studenten sympathisierten aber gleichzeitig mit autoritären Regimes wie dem in China. Ist das nicht widersprüchlich?

Doch, absolut. Aber dies muss man im Zusammenhang mit dem Vietnam-Krieg sehen, dem letzten großen Entkolonisierungskrieg, bei dem die Sympathien den vietnamesischen Freiheitskämpfern entgegenschlugen. Alle Bewegungen solidarisieren sich mit dem David, der gegen den Goliath kämpft. Im Mai 1968 erschien auch erstmals das Porträt von Che Guevara in der Öffentlichkeit, obwohl dies bereits 1961 aufgenommen worden war, bis dahin aber niemanden interessiert hatte. Che Guevara, Ho Chi Minh und teilweise auch Mao wurden zu Widerstandskämpfern stilisiert. Es herrschte eine überschwängliche, zur Verherrlichung neigende und aufgeladene Stimmung. Vieles davon kann man heute mit Logik und Rationalität nicht mehr erklären. Heute wissen wir viel mehr als damals.

Argumentieren Sie damit nicht in der gleichen Weise wie die deutsche Elterngeneration, die vom Holocaust nichts gewusst haben will?

Auf einer theoretischen Ebene kann man diesen Vergleich vielleicht ziehen, in der Praxis taugt er allerdings nicht: Wir sprechen bei der Kulturrevolution von einem Phänomen, das die Studenten nur von einer rein intellektuellen Ebene kannten. Kaum jemand von ihnen war jemals in China, vielleicht einer von Tausend. Dagegen konnte man in Deutschland auf der Straße sehen, was passierte: Denken Sie an die Kristallnacht oder die Judengesetze. Die Juden wurden von den Unis ausgeschlossen ? Es war offensichtlich, was dort im Nationalsozialismus vor sich ging.

Welche Auswirkungen hatte die Revolte auf Spanien?

In Spanien herrschte weiter Franco und die rigide soziale Ordnung geriet nicht ins Wanken. Und dennoch gab es einige wichtige Demonstrationen von Studenten in Barcelona und Madrid. Die Dimensionen waren andere als in Deutschland oder Frankreich, aber in einer gewissen Weise schlossen sich diese Studenten der Bewegung an. Auch in Spanien entstand eine Gegenkultur, die vor allem von Liedermachern geprägt wurde.

Hat das indirekt zum Niedergang des Franco-Regimes sieben Jahre später geführt?

Das Regime zerfiel endgültig mit dem Tod des Diktators. Allerdings bereitete die Studentenbewegung der kulturellen Hegemonie Francos bereits früh ein Ende, sodass der ­Franquismus nach dem Tod des Diktators keine kulturelle Basis mehr hatte. Sie sehen das auch daran, dass der historische Franquismus zehn Jahre nach dem Mai 1968 bei den ersten demokratischen Wahlen nicht einmal mehr auf ein Prozent der Stimmen kam.

Warum entwickelten sich in einigen Ländern wie in Deutschland oder Italien radikale Splittergruppen?

Weil einige Gruppen die Forderung nach einer politischen Revolution sehr wörtlich nahmen. Der bewaffnete Kampf wurde in diesen Gruppen mystifiziert. In diesem Zusammenhang finde ich auch einen Blick auf die baskische Terrororganisation ETA oder die IRA in Irland interessant. Zwar haben diese Terrorgruppen mit den Studentenrevolten faktisch nichts zu tun. Aber es wäre interessant zu untersuchen, inwieweit sich neue Generationen der Terroristen bei ihrer Entscheidung zum bewaffneten Kampf intellektuell von der 68er-Bewegung stimmulieren ließen.

Wie verhielt es sich in Frankreich?

In Frankreich, wo es im Mai 1968 zu den massivsten Auseinandersetzungen kam, entstand interessanterweise keine nennenswerte radikale Gruppierung bis auf Action Directe. Diese Gruppe trat aber erst später in Erscheinung und hatte auch nicht die Bedeutung wie beispielsweise die RAF in Deutschland oder die Roten Brigaden in Italien. In Frankreich schlossen sich einige Radikale den Guerrilla-Organisationen in Lateinamerika an.

Was ist von der Studentenrevolte geblieben?

Die Lebensumstände von heute, die Art und Weise, wie wir heute leben - das alles sind die Folgen dieser Bewegung.

Inwiefern?

Dass die neue spanische Regierung sich mehrheitlich aus Frauen zusammensetzt, wäre ohne Mai 1968 nicht zu erklären. Der moderne Feminismus und die Gleichberechtigung sind zwei der fundamentalsten Forderungen der Studentenrevolte. Auch die Umweltbewegung, das Bewusstein für die Natur und die kritische Betrachtung des Wirtschaftswachstums sind aus der Studentenbewegung hervorgegangen.

Kritiker machen die 68er für einen Werteverlust und die Auflösung familiärer Strukturen verantwortlich.

Die Bewegung hat vielmehr dazu beigetragen, dass wir ein Leben ohne Fesseln führen können, dass wir uns scheiden lassen und ohne Trauschein zusammenleben dürfen. Die Verhütung, das Ende der allgemeinen Wehrpflicht - alles dies hängt mit dem Mai 68 zusammen. Die Bewegung löste immense kritische und dialektische Debatten aus, die zu grundlegenden Veränderungen in unser Gesellschaft geführt haben.

Glauben Sie, dass sich eine ähnliche Protestbewegung heutzutage noch einmal wiederholen könnte?

In Europa oder den USA sicherlich nicht. Ich halte es aber für möglich, dass solche Umwälzungen in Zukunft in Afrika und Lateinamerika stattfinden könnten. Und ich bin mir ganz sicher, dass es in China passieren wird. Solche Bewegungen entstehen, wenn der Wunsch nach Freiheit und autoritäre Strukturen aufeinanderprallen. Nehmen Sie den Volksauftand auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Mai 1989. Damals gingen auch die Studenten auf die Straße. Die gewaltsame Niederschlagung hat den Prozess aufgehalten, aber sicherlich nicht für immer gestoppt. In der Druckausgabe lesen Sie außerdem:

Neues Varieté auf der Insel

Mit der Harley vor die Theke: Neuer Szenetreff in Arenal