Alle paar Wochen pendelt Kinderpsychologe Koen Sevenants zwischen Valldemossa und Peking. Im mallorquinischen Dörfchen lebt seine eigenes Kind - und von der chinesischen Großstadt aus koordiniert er Projekte, die anderen Kindern das Leben ein bisschen leichter machen. Mit seiner Wohltätig­keitsorganisation Morning Tears setzt sich der Belgier für Kinder und Jugendliche ein, deren Eltern im Gefängnis sitzen - oder, wie es in China schätzungsweise über 4.000-mal im Jahr geschieht, hingerichtet werden. Mittlerweile ist Morning Tears in über 17 Ländern aktiv, darunter auch in Spanien und Deutschland. Doch ein Großteil seiner Arbeit führt ihn in das Reich der Mitte - wo alles begann.

1999 besuchte er dort ein von vier chinesischen Richtern gegründetes Heim, in dem Kinder von zu Gefängnisstrafen verurteilten Eltern untergebracht waren. „Dort ist es oft so, dass die Mutter den gewalttätigen Vater umbringt", erzählt Sevenants. Wenn sie beweisen kann, dass es Notwehr war, muss sie für 21 Jahre ins Gefängnis - wenn nicht, droht die Exekution. Das Kind jedenfalls verliert häufig mit einem Schlag beide Elternteile. Und wird vom Rest der Verwandtschaft als Unglücksbringer verstoßen.

Beim Besuch des Belgiers stand die Existenz der vier Heime wegen Geldmangels bereits auf der Kippe. Er entschloss sich, zu helfen. Anfangs sei alles eine Art Hobby gewesen, seit fünf Jahren ist die Leitung von Morning Tears sein Vollzeitjob. Rund 140 bezahlte Angestellte zählt die Organisation weltweit, hinzukommen zahlreiche freiwillige Helfer.

Dabei stehen Heime wie die in China, in denen die Kinder in kleinen Gruppen mit Betreuern wohnen, nicht im Mittelpunkt. „Wir wollen die Regierungen dazu bringen, dass sie sich selbst um diese Kinder kümmert. Das ist immens wichtig, denn Kinder von Häftlingen landen - überall auf der Welt - mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch irgendwann im Gefängnis". Weil sie finanziell verarmen und sich ihren Lebensunterhalt mit Prostitution oder dem Verkauf von Drogen verdienen müssen. Und weil sie auch emotional verarmen: „Kinder brauchen Bestätigung und Liebe von ihren Bezugspersonen, sonst hat das fatale Auswirkungen auf ihre Entwicklung." Diesen Teufelskreis müsse man durchbrechen.

Zudem leiden Kinder von Häftlingen oft unter Traumata: „Sie lieben ihre Eltern, egal, was diese gemacht haben." Im Gegensatz zu Erwachsenen, so der Psychologe, wüssten sie zwischen dem guten Menschen und der bösen Tat zu unterscheiden. Häufig helfen schon Besuche im Gefängnis weiter.

Doch in dieser Beziehung steht auch in Deutschland, wo die Organisation ebenfalls vertreten ist, nicht alles zum Besten. „Wir setzten uns dort für kindgerechte Besucher­räume ein, wo es beispielsweise Toiletten, Spielzeug und Snacks gibt. In einem Gefängnis bei Köln werde dies jetzt auf das Betreiben von Morning Tears hin eingerichtet. Auf Mallorca bemühe man sich, den Kindern ausländischer Häftlinge Besuche zu ermöglichen, die Transport­kosten zu übernehmen und Begleitpersonen zu finden - denn oft will der andere Elternteil keinen Kontakt mehr zu dem Sträfling. Doch ohne erwachsene Begleitung dürfen die Kinder nicht in die Haftanstalt.

Auch für die Kinder in China sind die Besuche wichtig. Das sagen sie selbst - bei Morning Tears haben sie einen eigenen Ausschuss, der die Verantwortlichen berät. Sie bestanden auch darauf, eine der schwersten Aufgaben für die Betreuer wieder aufzunehmen. Im Jahr 2004 rief Sevenants die sogenannten „Goodbye Visits" ins Leben - um den Kindern zwei Tage, bevor Mutter oder Vater exekutiert werden, die Gelegenheit zum Abschiednehmen zu geben. „Zum ersten Mal seit Bestehen ging daraufhin die Zahl unserer Mitarbeiter zurück", so Sevenants.

Ganz offen gibt er zu, dass auch er selbst nach wenigen dieser Besuche damit aufhören musste. Doch nachdem die Kinder den Erwachsenen erklärt hatten, wie wichtig diese Abschiedsbesuche seien, organisierte Morning Tears schließlich spezielle Kurse, um die Betreuer zu schulen - und nahm die für alle so schweren Gänge wieder auf.

Das tägliche Leben in den Heimen gibt den Kindern ebenfalls Selbstvertrauen zurück. Hier dürfen sie, die sich ganz ohne eigenes Zutun in schrecklichen Situationen wiederfinden, endlich wieder selbst entscheiden. Was sie anziehen möchten. Was sie essen möchten. Was sie spielen möchten. Und ob sie weinen möchten.

Denn auch das ist ein wichtiges Thema: Der Umgang mit den eigenen Gefühlen. „Entrechtete Trauer" nennt der Fachmann das Phänomen: Wenn den Kindern von ihrem Umfeld vermittelt wird, sie dürften nicht um die schlechten, bösen oder gefährlichen Eltern oder deren Verlust trauern. Die Betreuer lernen, diesen Schmerz anzuerkennen.

Und ihn, wenn möglich, auch zu lindern. Zum Beispiel mit einer aufregenden Reise nach Europa. Dreimal bereits brachte Sevenants kleine Gruppen chinesischer Häftlingskinder und ihre Bezugspersonen zu einem kurzen Urlaub nach ­Mallorca. Das ist Teil eines Abkommens mit der chinesischen Regierung, die die NGO langsam anerkennt - und ihr sogar schon einen Preis für soziales Engagement verliehen habe.

Für die Kinder sei der Insel­besuch eine große Sache. Nicht nur, weil viele zum ersten Mal das Meer sehen. Oder eine Paella essen. Sondern vor allem, weil sie nach ihrer Rückkehr in China plötzlich ganz anders behandelt werden, sich wegen des Trips nach Europa von einer ausgestoßenen in eine interessante, beneidenswerte Person verwandeln.

Für die Hilfe, die er auf Mallorca findet, ist Koen Sevenants dankbar - den Unternehmen, die als Sponsoren wirken, und den Einwohnern von Valldemossa, die im Juni wieder bei einem großen Paella-Essen Spenden sammeln. Wer helfen wolle, so Sevenants, könne das auch ohne Geld tun: „Wir brauchen auch Übersetzer, Texter oder Menschen, die unseren Imagefilm in die Kinos bringen. Uns geht es vor allem darum, Bewusstsein zu schaffen: Für die versteckten Opfer, die kein Verbrechen begangen haben, aber dafür bestraft werden."

www.morningtears.com

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