Nach einem Wimpel hält man vergebens Ausschau, stattdessen thront ein orange-weiß-gestreifter Pylon auf dem Tisch in einer Ecke in der Bar La Bodeguita. „Der Besucher, der als Erster eintrifft, schnappt sich das Verkehrshütchen und setzt sich an den Tisch, bis der Nächste kommt", erklärt Initiator Jochen Hesse, der den Stammtisch deswegen auch Blind Date nennt. „So braucht es keinen Organisator, der ständig vor Ort ist."

An diesem Montag (15.12.) hat sich ein knappes Dutzend am Stammtisch eingefunden. Das Wetter ist zu ungemütlich, um draußen auf der Promenade mit Blick auf den Hafen zu sitzen, dafür wird es im Innenraum bei Kaffee und Bier heimelig. Jetzt im Winter sind die meisten Teilnehmer Residenten, aber am Stammtisch sitzt auch Ingelore Mögenburg aus Deutschland, die gerade in der Wohnung einer Freundin wohnt und sich in einer Orientierungsphase befindet, wie sie sagt: Soll sie den Sprung auf die Insel wagen? Geht das ohne Auto, hier in Cala Ratjada?

Die erfahrenen Insel-Deutschen stehen ihr mit Rat zur Seite. Carlesheinz Lewandowski etwa - der 72-Jährige lebt seit 46 Jahren auf Mallorca und schätzt den Austausch am Stammtisch genauso wie die Neuankömmlinge. Der Treff ist auch so etwas wie ein Cala-Ratjada-­Fanclub der Ü-40-Gruppe. Lewandowski kann nicht nur Tipps und Erfahrungen weitergeben, sondern auch mit Anekdoten aufwarten, die bis in die Franco-Zeit zurückgehen.

Der Stammtisch lebe von den unterschiedlichen Lebensgeschichten der Teilnehmer, so Hesse. Da trifft der ehemalige Entwicklungsleiter für Scheibenwischer bei einem großen Automobilkonzern auf einen Musiker, der frühere Parfum­entwickler auf die Fitnesstrainerin.

Auch das Konzept Selbstläufer ist aufgegangen: Seit inzwischen knapp drei Jahren tagt der Stammtisch ganzjährig Woche für Woche, im Winter in La Bodeguita, im Sommer im Llagost, weil man dann in der anderen Bar so schlecht einen Platz bekomme, so Hesse. Der 66-Jährige selbst überwintert nur auf Mallorca, braucht sich aber während seiner Zeit in Deutschland keine Sorgen um das wöchentliche Blind Date machen.

Die Teilnehmer sind fast alles Deutsche, was man auch am exakten Termin für den Treffpunkt erkennen kann, jeweils montags um 12.12 Uhr (Anm. d. Red.: Der Treffpunkt wurde verschoben auf Mittwoch ab 12 Uhr in Cala Ratjada im "Alcazaba", Carrer Castellet).

„Eigentlich sollte es damals um 11.11 Uhr losgehen", so der Wilhelmshavener mit Wurzeln im Rheinland. „Aber da hatte die Kneipe noch zu, und mit wechselnden Orten hätte das ganze Spiel nicht funktioniert." Wenn jemand etwas später eintrifft, ist das natürlich auch in Ordnung.

Die Teilnehmer sind nicht nur unterschiedlich lang auf der Insel, sondern auch unterschiedlich gut integriert - und so dient das Zusammentreffen auch dazu, Erfahrungen an diejenigen weiterzugeben, bei denen es etwa mit den Spanisch-Kenntnissen nicht so gut klappt. Jede Menge zu erzählen hat da Richard Stauber. Der Schweizer, der von allen nur Pancho genannt wird, spielt Trompete in der örtlichen Stadtkapelle, freut sich aber auch jeden Montag auf die zwei Stunden Plauderei auf Deutsch, wie er sagt. Und nebenbei profitiert auch er von den Tipps, sei es bei der Suche nach einem Handwerker oder dem richtigen Zahnarzt.

Vor Ort an der Promenade findet sich jeden Montag eine Gruppe zwischen drei und mehr als 20 Personen ein, die dazugehörige Facebookgruppe zählt aber inzwischen knapp 250 Mitglieder. Wer gerade nicht in Cala Ratjada ist, kann über die Treffen darüber hinaus im Blog von Jochen Hesse lesen, dazu veröffentlicht der ehemalige Datenverarbeitungsexperte jede Menge Fotos. Neben einem Wochenrätsel und wichtigen Adressen finden sich zudem Dokumentationen über aktuelle Hotelbaustellen im Winter.

Längst trifft man sich auch außerhalb der montäglichen Kernzeiten, bleibt noch zum ­Mittagessen beisammen, verspeist einen mitgebrachten Kuchen, besucht ein Konzert im Kulturzentrum Cap Vermell, geht gemeinsam wandern, erkundet den Dijous Bo in Inca oder hilft zusammen bei der Weinlese.

„Wir haben wirklich nette Leute kennengelernt", berichtet Reinhold Jacobs, Besitzer eines Apartments in Cala Ratjada, der seit zwei Jahren dabei ist und sich während der alljährlichen Mallorca-­Wochen stets den Montag freihält, wie er sagt. „Es sind wirkliche Freundschaften entstanden." Hesse weiß sogar von einem deutschen Paar zu berichten, das wegen des Stammtisches seinen Aufenthalt von Llucmajor in die Deutschen-Hochburg Cala Ratjada verlegen will. Wo auf Mallorca findet man schließlich - auch im Winter - so schnell Anschluss?

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