Dario und Rodrigo klettern auf den Liegen am Pool herum, tollen zwischen den Palmen umher. Während Dario beim Laufen leichte X-Beine macht und die Fußspitzen nach innen dreht, erinnert Rodrigos Gangart eher an die von Charlie Chaplin. Die beiden Sechsjährigen leiden an der extrem seltenen Sandhoff-Krankheit. Infolge eines Gen­defekts funktionieren zwei für den Stoffwechsel nötige Enzyme nicht mehr. Dadurch verlieren die Kinder nach und nach ihre motorischen Fähigkeiten, können nicht mehr laufen, sprechen, irgendwann nicht einmal mehr lächeln. Die meisten werden nicht älter als vier Jahre.

Bei Dario aus Höchberg in Unterfranken und Rodrigo aus Palma wurde dagegen eine juvenile Form von Morbus Sandhoff diagnostiziert, von der derzeit gerade einmal 30 Fälle weltweit bekannt sind. Aufgrund des milderen Krankheitsverlaufs können die beiden Jungen noch zusammen spielen und lachen - und die Terrasse des Hotels in Illetes unsicher machen, wo Dario gerade mit seinen Eltern Birgit Hardt und Folker Quack Urlaub macht. Sie haben Rodrigos Eltern Ainhoa Samper und Ricardo Mendoza im Oktober 2014 im Euro-Disneyland bei Paris kennengelernt. Auf Einladung einer internationalen Vereinigung von Selbsthilfegruppen, die gegen Morbus Sandhoff und die sehr ähnliche Tay-Sachs-Krankheit kämpft, hatten sich dort zwölf Familien aus ganz Europa getroffen. Für zwei davon gab es nun ein Wiedersehen auf Mallorca.

Dario war ein Wunschkind, das im März 2009 scheinbar völlig gesund zur Welt kam. Dass er sich mit seiner Entwicklung stets ein wenig länger Zeit ließ als seine Altersgenossen, kam den Eltern schon bald seltsam vor, Laufen lernte Dario erst mit 18 Monaten, nach einer Physiotherapie. Dass mit ihrem Sohn definitiv etwas nicht stimmte, hätten sie jedoch erst im Herbst 2011 gemerkt, erzählt Folker Quack. Dario fiel auf einmal immer öfter hin, innerhalb von Tagen baute er körperlich vollkommen ab. Die Mediziner waren zunächst ratlos - bis der Oberarzt einer ­Spezialklinik für neurologische Kinderkrankheiten Birgit Hardt eiskalt ins Gesicht sagte: „Ihr Kind wird nie mehr laufen, wird blind, taub und sterben." Das saß.

Doch Dario belehrte seine Umwelt eines Besseren: Der damals Zweijährige erholte sich, die epileptischen Anfälle hörten wieder auf. An Weihnachten 2011 konnte er sogar wieder laufen. Vielleicht doch alles ein Irrtum? Doch ein halbes Jahr später folgte die endgültige Diagnose. „Es ist ein Sandhoff", sagte der zuständige Arzt. So schrecklich diese Worte sich anhörten, so froh waren Birgit Hardt und Folker Quack, Gewissheit zu haben.

Seitdem versuchen sie, mit dem Schicksal ihres Kindes klarzukommen und ihm, so gut es geht, ein normales Leben zu ermöglichen. Dario geht in einen gewöhnlichen Kindergarten in seinem Heimatort. Dass die seit Jahren vollmundig angekündigten Versprechungen von der Inklusion dort tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden, habe allerdings seitenlangen Schriftverkehr mit den Behörden erfordert, erzählen die 44-Jährige und der 53-Jährige. In ihren Worten schwingt eine Mischung aus Wut und Verzweiflung mit, sie wirken müde, abgekämpft.

Rodrigos Mutter Ainhoa Samper macht auf den ersten Blick einen ganz anderen Eindruck. Die 32-Jährige redet schnell, lacht, gestikuliert wild, verdreht die Augen, als sie die Krankheitsgeschichte ihres Sohnes schildert. Vielleicht liegt es daran, dass diese erst im vergangenen Jahr begann, als Rodrigo auf einmal Probleme mit dem Laufen bekam und immer öfter stürzte. Zunächst wurde sie zum Orthopäden geschickt, doch bald war klar: „Das Kind will sich um jeden Preis normal bewegen, doch die Gliedmaßen gehorchen einfach nicht. Nach zig Untersuchungen im Landeskrankenhaus Son Espases erhielten Rodrigos Eltern im Juni 2014 in einer Klinik in Barcelona die Diagnose: Sandhoff.

Der Sechsjährige wirkt insgesamt fitter als Dario, geht weiterhin auf eine normale Schule. „Er braucht nur ein bisschen Hilfe, etwa beim Treppensteigen", sagt Ainhoa Samper. Und nachmittags stünden eben Physiotherapie oder Termine beim Logopäden auf dem Programm. Auch die Mallorquinerin kann nicht verbergen, dass sie an ihre Grenzen stößt. Wie Darios Eltern stehen sie und ihr Mann allein auf weiter Flur da. In Spanien ist erst seit Kurzem ein weiterer Fall bekannt: ein einjähriges Mädchen aus Valencia, das allerdings an der schlimmen, infantilen Verlaufsform leidet. Den Ärzten fehlt es an jeglicher Erfahrung, hinzu kommen die üblichen Probleme des öffentlichen Gesundheits­systems: Seit acht Monaten wartet die Familie auf die Ergebnisse eines Gentests, der Aufschluss geben soll, welche Gene genau geschädigt sind. Nur mit diesem Wissen könnte bei Rodrigos einjährigem Bruder Yago festgestellt werden, ob er ebenfalls an der Krankheit leidet, ohne noch einmal den langwierigen Untersuchungsmarathon zu durchlaufen, den die Mediziner sich sparen wollen.

Dario wird seit einigen Jahren in der Villa Metabolica in Mainz behandelt, einer Spezialabteilung für lysosomale Stoffwechselerkrankungen an der Uni-Kinderklinik. Er bekommt ein Medikament, das die Restaktivität der Enzyme verstärkt und das Voranschreiten der Krankheit verlangsamt. Obwohl es derzeit noch nicht auf dem Arzneimittelmarkt erhältlich ist, übernimmt die gesetzliche Krankenkasse die Kosten. „Als der Sachbearbeiter einwandte, dass es erst an 100 Patienten getestet werde muss, sagte ich nur: So viel Zeit haben wir nicht", erzählt Folker Quack. Außerdem erhält die Familie gut 500 Euro Pflegegeld pro Monat. „Ich kann schließlich nur noch halbtags arbeiten", sagt Birgit Hardt.

Rodrigos Eltern hingegen müssen sich alle drei Monate mit einem Zuschuss von 200 Euro zufrieden geben. „Das reicht hinten und vorne nicht für die Therapie, die wir aus eigener Tasche bezahlen", sagt Ainhoa Samper, die nach der Diagnose obendrein unbezahlten Urlaub nahm, am 1. Mai aber in ihren Job als Rezeptionistin zurückkehren will. Über Facebook hat die Familie mittlerweile einen Spendenaufruf gestartet, auf der Insel fanden bereits Benefizveranstaltungen für Rodrigo statt. Eine gute Nachricht ist außerdem, dass die spanische Seguridad Social das Medikament übernehmen würde, das nun auch Rodrigo verschrieben werden soll - nachdem seine Eltern der Ärztin von den guten Erfahrungen, die Dario damit macht, berichtet hatten.

„Es kann doch nicht sein, dass wir Eltern uns selbst um so etwas kümmern müssen", sagt Birgit Hardt. Und sie meint damit nicht nur den Informationsaustausch, sondern vor allem den medizinischen Fortschritt - ja die Chance, dass gegen die derzeit als unheilbar geltende Krankheit doch noch ein Mittel gefunden wird. Ein Professor aus England, Timothy Cox, ist derzeit der Einzige, der sich mit Morbus Sandhoff befasst und an Medikamenten sowie einer Gentherapie arbeitet. 2016 könnte sie an den ersten Patienten getestet werden - das ist die große Hoffnung, an die sich Birgit Hardt und Folker Quack mit aller Kraft klammern. Aber wird Dario, der schon bei einer simplen Erkältung rapide abbaut, solange durchhalten? Über einen eigens gegründeten Verein versucht das Paar, Spenden für die Forschung zu sammeln und Sponsoren für das dritte europaweite Treffen der betroffenen Familien zu gewinnen. Es soll in diesem Jahr im Legoland im bayerischen Günzburg stattfinden, eingeladen werden soll auch Professor Cox, berichtet Birgit Hardt, die die Veranstaltung bereits eifrig organisiert.

Auf der Insel versucht die Familie nun aber erst einmal auszuspannen - wenngleich die Krankheit ihrer Söhne auch bei den Ausflügen mit Rodrigos Familie und der Fahrt mit der Eisenbahn nach Sóller stets ein Thema ist. „Ja, es ist Urlaub, aber eigentlich fährt man ja nur noch dahin, wo andere Betroffene wohnen", sagt Birgit Hardt. Doch der Austausch gebe einem auch viel Kraft. „Und sonst wären wir wahrscheinlich nie nach Mallorca gekommen."

Informationen zum Verein „Hand in Hand gegen Tay-Sachs und Sandhoff in Deutschland" gibt es auf www.tay-sachs-sandhoff.de (Spendenkonto: DE59 7905 0000 0047 7995 15); die Initiative „Da un paso con Rodrigo" (Geh einen Schritt mit Rodrigo) ist unter www.tay-sachs-sandhoff.dewww.facebook.com/daunpasoconrodrigo