Noch bevor Ella Carnesecca zur Welt kam, erteilte sie ihren Eltern eine Lektion: Unverhofft kommt oft. Die ­Hannoveraner Lydia und Raffaele Carnesecca mussten in den vergangenen acht Wochen das emotionale und organisatorische ­Chaos einer unerwarteten Frühgeburt im Ausland meistern. Doch das Chaos war das eine, die erfahrene Hilfsbereitschaft das andere: „Wir möchten darüber berichten, welches Schicksal uns hier widerfahren ist und wie viel Unterstützung wir auf Mallorca bekommen haben." Mit diesen Worten meldete sich Lydia Carnesseca am Montag (17.8.) bei der MZ.

Die Reise der Familie aus Hannover, zu der auch die dreijährige Emilia gehört, beginnt am 9. Juni mit einem Flug nach Palma. Lydia ist in der 24. Woche schwanger, Arzt und Hebamme attestieren vorab eine risikofreie Schwangerschaft und wünschen eine gute Reise. „Die hatten wir: 15 tolle Tage auf zwei Fincas," sagt die Mutter. Am letzten Urlaubstag, 24. Juni, kehrt die Familie gegen 23 Uhr in die Unterkunft zurück. „Ich merkte schon auf der Fahrt: Da läuft was, was nicht laufen soll", sagt die 34-Jährige, die bei einer Versicherung in Deutschland arbeitet.

Sie entscheidet sich, nach Manacor ins Krankenhaus zu fahren, zusammen mit dem ersten freundlichen Helfer: Ein spanischsprechender Urlaubsnachbar aus Öster­reich begleitet sie, während ihr Mann bei der Tochter bleibt. „Ohne Spanisch wäre ich dort aufgeschmissen gewesen." Gegen 2 Uhr raten ihr die Ärzte, ihren Mann doch noch ins Krankenhaus zu rufen. Raffaele und Emilia kommen, Lydia erhält die Diagnose: angerissene Fruchtblase mit erhöhtem Risiko einer Frühgeburt. Die Schwangere bekommt sofort eine Spritze, um die Lunge ihrer ungeborenen Tochter schneller reifen zu lassen. Gegen 3.30 Uhr liegt sie im Krankenhausbett. „Ich hab den Ernst der Lage trotzdem nicht erkannt."

Am nächsten Tag erfolgt der Krankentransport ins Landeskrankenhaus Son Espases, das eine spezielle Abteilung für verfrühte und komplizierte Geburten betreibt. Erst drei Tage später erfährt Lydia, dass es bei gerissenen Fruchtblasen zu 50 Prozent direkt zu einer Frühgeburt kommt. Die Ärzte hatten ihr das verschwiegen, weil Aufregung dazu führen kann, dass die Wehen einsetzen.

Lydia muss im Son Espases bleiben, das Bett hüten und bekommt eine intravenöse Antibiotika-Therapie, um die ­Geburt bis zur 34. Woche hinauszu­zögern. Ein Rücktransport nach Deutschland kommt nicht in Frage, zu groß ist das Risiko, dass das Kind in der Luft zur Welt kommt und im Flugzeug nicht adäquat versorgt werden kann. Ihr Mann und die dreijährige Emilia bleiben ebenfalls auf Mallorca.

Neben dem Bangen um die Ungeborene beginnt damit eine ganz andere Odyssee, Lydias dringendste Fragen: „Wo bleibt Raffaele mit Emilia? Wer hilft mir überhaupt? Welche Versicherung wird das zahlen?" Der erste Glücksfall: Vater und Tochter können zunächst in der Finca bleiben. Die erste Ernüchterung: Die ­Reiserücktrittsversicherung für die nicht angetretenen Rückflüge mit Tuifly greift nicht. Weil die Carneseccas die Verbindung nicht mit der Tui-Kreditkarte gezahlt haben. „Die Zahlungsart war vorgewählt - Lastschrift ohne Gebühren", sagt Lydia. Die ersten 500 Euro sind weg.

Die Behandlungskosten übernimmt dank einer EU-weiten Regelung die gesetzliche Krankenkasse in Deutschland. Doch jede Entscheidung ist mühsam: Die Versicherung telefoniert mit Son Espases, der daraus resultierende Bericht geht an einen deutsch-spanischen Arzt, dieser wiederum spricht eine Empfehlung aus, die dann zurück an die Versicherung geht. „An manchen Tagen waren wir sehr verzweifelt", sagt Lydia.

Anfang Juli fliegt ihr Mann einmal mit Emilia nach Hannover, packt in Windeseile eine Wickeltasche und Babybodies ein, aktiviert Freunde für Hilfsdienste, nimmt das Familienstammbuch mit und kehrt nach Mallorca zurück. Den nächsten Rückflug plant er für den 20. Juli. Das Ehepaar ruft vorab bei MZ-Mitarbeiterin Barbara Pohle an und fragt um Rat. „Ich durfte ja nur aufstehen, um ins Bad zu gehen und habe mich gefragt, wer kauft mir eine Cola, wenn ich hier allein bin?" Pohle empfiehlt den deutschsprachigen kirchlichen Besuchsdienst. Ein Glücksgriff. Die Visite übernimmt Claudia Lier, die wiederum den Kontakt zu Ulla Echterhölter herstellt, in deren Ferienwohnung die Carneseccas bis heute untergekommen sind. „Es ist Wahnsinn, was wir an Hilfe erfahren haben", sagt Lydia.

Am Vorabend des 20. Juli besucht Raffaele seine Frau noch einmal im ­Krankenhaus. „Der Abschied war sehr emotional." Lydia ist in der 30. Woche ihrer Schwangerschaft. Der werdende Vater verlässt das Krankenhaus gegen 20 Uhr. Etwa um 21 Uhr spürt Lydia ein Ziehen im Unterleib. Zwei Stunden später die Gewissheit per Kardiotokografie: Wehen.

Ella kommt am Morgen des 20. Juli per Kaiserschnitt zur Welt. Sie wiegt 1.600 Gramm und ist 41 Zentimeter groß. Ella ist schwach, aber es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Sie muss trotzdem in den Inkubator, wird intravenös ernährt, bekommt einen Mix aus Vitaminen, Antibiotika, anderen Medikamenten und Koffein, um ihrem Herz das Schlagen zu erleichtern und eine unterstützende Atemmaske. „Als ich sie das erste Mal gesehen habe, war das ein Schock. Das Kind liegt da, die Maske drückt ihr ins Gesicht und du kannst nichts machen", sagt Lydia. Zwei Tage nach der Geburt darf sie Ella zum ersten Mal berühren, erst jetzt realisiert sie, dass sie Mutter geworden ist. Ab dem vierten Tag dürfen Lydia und Raffaele, der dann doch nicht geflogen ist, das Kind auf ihre Brust legen. Diese sogenannte Känguru-Methode erhöht die Überlebenswahrscheinlichkeit der Frühgeborenen.

Jetzt beginnt das Wachen in der Frühchenstation. Die Eltern dürfen Ella jederzeit besuchen und betreuen auch Emilia abwechselnd. Die Krankenschwestern und Ärzte sind freundlich und sehr professionell, stehen aber auch unter hohem Druck: Auf der Station geht es um Leben und Tod. Auch dieVerständigung ist nicht einfach: „Die anderen Mütter haben zum Beispiel ein freundschaftliches Verhältnis zu den Krankenschwestern aufgebaut. Das ging bei mir nicht, weil ich nicht nachfragen konnte", sagt Lydia. Die Zeit vor der Niederkunft hatte sie für Spanisch­stunden im Krankenhaus genutzt. Die Hebamme im Kreissaal sprach zum Glück Englisch.

Nach der Geburt half die deutsche Hebamme Jessica Hölscher aus. „Mit scheinbar banalen Sachen wie: Wo bekomme ich eine Milchpumpe oder Stilleinlagen." Hölscher füllte auch die sechs Seiten auf Spanisch aus, mit denen die Carneseccas die Geburtsurkunde in Palma beantragten. Die Standesbeamtin verweigerte ihnen das Dokument zunächst, weil sie kein Spanisch sprechen. „Plötzlich fragte ein Mädchen neben mir, ob sie mir helfen kann", sagt Lydia. Wie sich herausstellte: Ein mallorcastämmiges Geschwisterpaar, das wie die Carneseccas in Hannover lebt. Die beiden überzeugten die Dame vom Amt, dass die Eltern den Inhalt des Dokuments tatsächlich kannten. Der Name darauf: Ella Marisol Monika. „Der erste und dritte Name standen schon fest, aber es musste noch was Spanisches her. Mar y sol - Sonne und Meer, wir fanden, das passt zu Mallorca", erzählt Lydia.

Die dreijährige Emilia durfte knapp vier Wochen nach der Geburt zum ersten Mal zu ihrer Schwester. Ella wiegt inzwischen 2.200 Gramm und ist seit fast zwei Wochen reisefähig. Noch warten die Eltern auf das OK der Versicherung für den Rückflug in einer Maschine vom Malteser-Hilfsdienst. Lydia und Raffaele haben bislang ergebnislos bei Air Berlin, Germanwings, Tuifly und Condor nach bezahlbaren Tickets mit flexiblen Umbuchungsmöglichkeiten gefragt. Die Kosten für die unfreiwillige Elternzeit auf Mallorca werden sich voraussichtlich auf gut 10.000 Euro belaufen. Doch das ist nebensächlich, „Hauptsache das Kind ist gesund", sagt Lydia. Und: „Wir hatten ja vorher überlegt, ob wir die Elternzeit nicht hier verbringen sollen. Aber jetzt wird es Zeit, nach Hause zurückzukehren." Schwanger fliegen will Lydia Carnesecca übrigens nie wieder.