Zum Tod von Guido Westerwelle

Nein, „Zwischen zwei Leben", das diese Woche erschienene Buch von Guido Westerwelle, ist natürlich kein Mallorca-Buch. Es ist das Zeugnis eines Mannes, der von der Allmacht des Außenministers Abschied nimmt, um wenig später die Ohnmacht eines Krebs­patienten zu erfahren. Der entdeckt, dass die Chromosomen in seinen Blutzellen „kaputt" sind und der nun plötzlich auf die Stammzellen eines anonymen Spenders, auf das Immunsystem eines anderen Menschen angewiesen ist. Der durch die Hölle von Bestrahlung, Chemo­therapie und Stammzelltransplantation geht, und sie hoffentlich für immer von der Leukämie genesen wieder verlässt, obwohl man das bei dieser heimtückischen Krankheit nie so genau wissen kann.

Und dessen Persönlichkeit sich über alledem gewandelt zu haben scheint, wie auch die Interviews und Fernsehauftritte der vergangenen Tage zeigen: Guido Westerwelle, das Alphatier mit der oft schneidenden, verletzenden Rhetorik, dessen Habitat der große politische und mediale Zirkus war und der oft genug nach unten trat, lässt plötzlich Gefühle zu, die eigenen, und das in aller Öffentlichkeit.

Demütiger, gelassener, weicher: Guido Westerwelle scheint ein anderer Mensch geworden zu sein, wahrscheinlich ein besserer. Dazu musste er „offenbar erst selbst erfahren, was wirkliche Schwäche bedeutet". Ein Mensch wirft seine harte Schale ab, und darunter ist Zerbrechlichkeit. Guido Westerwelle reflektiert darüber mit einer Offenheit, wie sie unter Spitzenpolitikern sehr selten ist. „Zwischen zwei Leben" ist auch deswegen ein mutiges, über weite Strecken beeindruckendes Buch.

Durch das sich wie ein roter Faden Mallorca zieht. Die Insel ist - neben der Liebe zu seinem Mann, Michael Mronz, und der Unterstützung durch Ärzte, Familie und Freunde - der Rettungsring, an den sich Guido Westerwelle klammert, das Ziel, das es zu erreichen lohnt. Mallorca, das ist ein Grund zu leben. Und gerade weil die vielen Verweise auf die Insel in so einem existentiellen und intimen Kontext stehen, sind sie eine außerordentliche Hommage an diesen Flecken Erde und das Meer, das ihn umgibt.

Bereits nach der Wahlniederlage im September 2013, als die FDP nicht mehr in den Bundestag kam und Westerwelle sein Amt als Außenminister niederlegen musste, ist es ein zentrales Vorhaben des Paares, Weihnachten auf der Insel zu feiern. Hier entschleunigt Westerwelle dann auch, oder versucht es zumindest. Auf Mallorca, beim Laufen an der Meerespromenade von Portixol, verspürt er am Neujahrstag 2014 aber auch zum ersten Mal einen stechenden Schmerz im rechten Knie: ein Meniskusriss, dessen Behandlung in die Leukämie-Diagnose münden sollte. Ein Handyfoto von Mronz und ihm an eben dieser Uferpromenade steht auf dem Nachttisch im Krankenhaus.

Hier auf der Insel, in seinem 2011 erstandenen Haus im Villenviertel Son Vida, erholt er sich dann auch von den Therapien, hier führt er die stundenlangen Gespräche, aus denen Dominik Wichmann, ein Top-Journalist, ehemaliger Chefredakteur des Magazins der „Süddeutschen" und des „Stern", dieses Buch gemacht hat.

„Einmal noch Mallorca sehen, nur ein einziges Mal", heißt es, als Guido Westerwelle im Kranken­haus auf seine neuen Stammzellen wartet, und noch nicht weiß, ob er überleben wird: „Den Kopf in den Rosmarinbusch rechts neben dem Eingang stecken, die würzig-weiche Luft in meine Lungen ziehen, barfuß über das Gras im Garten laufen und auf der Insel noch einmal die ersten Schritte in ein neues Leben gehen."

In einer sicherlich auch der meisterhaften Schreibe von Wichmann geschuldeten Intensität, wird in „Zwischen zwei Leben" auf diese Weise zudem dokumentiert, warum die Deutschen an dieser Insel einen Narren gefressen haben. Und das schon seit ­Generationen: Guido Westerwelle gehört zu jenen, die schon als Kinder hier ihre Ferien verbrachten. „Seit ich denken kann, sehne ich mich nach Mallorca", heißt es in einem „Das Glück ist eine Insel" überschriebenen Kapitel. Sein Vater brachte dem Fünf- oder Sechsjährigen auf Mallorca morgens das Schwimmen bei, nachmittags ging es auf ein Gestüt im Inselinneren zum Reiten.

Seither ist er immer wieder zurückgekehrt, etwa auch Mitte der 90er Jahre gemeinsam mit seiner über 80-jährigen Großmutter, die heimlich von Felsvorsprüngen ins Meer sprang und sich solange in den Wellen vergnügte, bis „sie erschöpft von dem Bademeister herausgezogen werden musste".

Und die daraufhin, was für ein schöner Satz, gesagt haben soll: „Lieber vor Mallorca ertrunken als in einem Bett in Deutschland gestorben."

Mit dem Kauf des Hauses wurde Mallorca für Westerwelle und Mronz dann zum „gemeinsamen Rückzugsort", zum „Nest" ihrer Beziehung: „Ein Platz, um zuzuhören, nicht unbedingt ein Platz, um dort Gehör zu finden." Es sind keine 24 Stunden nach der Amtsübergabe im Auswärtigen Amt verstrichen, und Guido Westerwelle fliegt auf die Insel. Vom Flughafen lässt er sich vom Taxifahrer direkt zum Mercat de Santa Catalina in Palma bringen. Über zwei Seiten beschreiben Westerwelle und Wichmann bis ins Detail, was der nach 30 Jahren nunmehr nur noch ­ehemalige Machtmensch dort kaufte, sah, roch und schmeckte. Das ist sehr gut gemacht, und läuft natürlich auf eine Pointe hinaus: „Ich glaube sagen zu können, dass ich in diesem Augenblick ein sehr glücklicher Mensch war." Das Glück aber, es ist ungeheuer flüchtig.

Mallorca ist für Westerwelle eine Art Heimat geworden, ebenso wie das Rheinland oder auch Berlin. „Heimat ist dort, wo die Erinnerung Bescheid weiß", zitiert er in dem Buch einen Satz des Schriftstellers Uwe Johnson. Seit der geglückten Stammzelltherapie verbringe er jetzt viel Zeit auf der Insel, heißt es am Schluss: „Weil es mir guttut. Ich bin viel im Garten, jäte, pflanze und schneide die Büsche, sodass ich an manchen Abenden meinen Rücken und die ­Hände spüre."

Ein neues Leben? Guido Westerwelle selbst zögert bei dieser Formulierung, weiß sehr wohl, dass es nicht zwei Leben sind, sondern ein einziges. „Wer also werde ich sein? Ganz der Alte? Ein ganz Neuer? Oder irgendwer dazwischen?" Er weiß es noch nicht, Mallorca, das wird in diesem Buch deutlich, dürfte ihm auch weiterhin Halt bieten.

„Zwischen zwei Leben. Von Liebe, Tod und Zuversicht" von Guido Westerwelle und Dominik Wichmann ist bei Hoffmann und Campe erschienen und kostet 20 Euro.