Als Peter Nichols Mitte der 60er-Jahre noch ein Jugendlicher war, trank er im Hotel Sea Club in Cala Ratjada sein erstes Bier - die Marke „San Miguel" gab es schon damals. „Meine Eltern besaßen ein Haus im Ort, und ich spielte hier am Pool mit französischen, deutschen, skandinavischen, britischen und spanischen Gleichaltrigen", sagt der inzwischen 65-jährige britische Schriftsteller, der in Kalifornien und England wohnt. Er steht an der Bar und blättert in Fotoalben mit verblichenen Bildern, die ihm sein Landsmann Luis Cumberlege hinlegt, der 75-jährige Besitzer der very british daherkommenden 16-Suiten-­Herberge. Sein Vater, ein Admiral der Kriegsmarine Ihrer Majestät, hat das Hotel 1959 eröffnet.

Peter Nichols ist aus gutem Grund an den Ort seiner Jugend zurückgekehrt. Ende Mai erscheint „Die Sommer mit Lulu", die deutschsprachige Ausgabe seines Romans „The Rocks", und der spielt vor allem hier, in diesem Hotel und in diesem Ferienort. Der Verlag, Klett-Cotta, hat Journalisten großer deutschsprachiger Zeitungen und Zeitschriften eigens auf die Insel geflogen, um Nichols und sein Buch bekannt zu machen. Das Kalkül: „Die Sommer mit Lulu" (22,95 Euro, 512 Seiten) soll dieses Jahr die Urlaubslektüre auf Mallorca und anderswo werden.

„The Rocks" ist erst voriges Jahr auf Englisch erschienen und hat sehr gute Kritiken bekommen. Immer wieder spielen darin die steilen und teils überhängenden Felsen am Meer in Cala Ratjada eine Rolle. Nichols erzählt eine im Jahr 2005 tragisch endende Familiengeschichte, die sich über sechs Jahrzehnte erstreckt. Am Anfang steht der auf den Klippen tödlich endende Kampf zweier alter Menschen, die vor Jahrzehnten verheiratet waren. Es handelt sich um die zeitlos schöne Hotelbesitzerin Lulu und den schwer erkrankten Ex-Segler Gerald. Danach geht es zurück bis 1948, als sich die beiden ineinander verliebten. Zugleich werden die auch auf den Felsen ausgelebten Liebesabenteuer zweier mit jeweils anderen Partnern gezeugter Kinder der Hauptfiguren, Luc und Aegina, durchdekliniert.

„Die Geschichte andersherum erzählt zu haben, wäre mir viel zu traurig vorgekommen", so Nichols zur MZ. „Und deswegen habe ich das Positive - die Hoffnungen und Träume der beiden und ihrer Kinder - erst später im Buch gebracht." Dadurch werde vielleicht ­klarer als andersherum, „dass das Leben immer anders verläuft, als du denkst". Weil sein Buch von „Enttäuschungen" ­handele, habe er den Titel „The Rocks" gewählt, Felsen: „On the rocks zu sein, bedeutet auf Englisch, Ärger zu haben." Die verstörende Anfangsszene dort, wo das Meer unterhalb des Sea Club gegen die Felsen klatscht, habe er bereits jahrelang im Kopf gehabt, bevor er den Roman überhaupt in Angriff nahm.

Den Kritiker der „New York Times" hat Nichols´ Art des Erzählens und auch die Tatsache, dass er viel Mallorca-Detailwissen eingearbeitet hat, überzeugt. Das renommierte Blatt sprach im Mai des vergangenen Jahres von einem „furiosen" Roman. „Wir lesen nicht weiter, weil wir wissen wollen, was passiert, sondern weil wir erfahren wollen, was bereits passierte", so die Rezension.

Es ist sicherlich nicht nur die Erzähltechnik, sondern vor allem die Verwobenheit Nichols´ mit Mallorca im Allgemeinen und Cala Ratjada im Besonderen („wir wollen immer dorthin zurück, wo wir uns am besten gefühlt haben"), die den Roman so kraftvoll herüberkommen lässt. „Wir waren hier jedes Jahr, es war ein Familienort", so Nichols zur MZ. In Cala Ratjada lernte er erstmals Mädchen näher kennen, vor allem Französinnen. „Sie hießen Véronique, Florence oder Natalie." Mit ihnen vertrieb er sich die Zeit in der Open-Air-Disco „Mira Vista". In Cala Ratjada lernte Nichols das Meer so lieben, dass er später Segler wurde, zunächst nach Griechenland fuhr und dann mehrfach den Atlantik überquerte - auch mal mit Marihuana aus Marokko für die USA an Bord, wie er freimütig zugibt.

Es war das Segeln, das den Engländer zum Schreiben brachte. Er verortete sich selbst mit Romanen, Reiseberichten und Biografien im Bereich Seefahrt und Abenteuer - etwa mit dem Bestseller „A Voyage for Madmen". Oder mit dem Roman „Oil and Ice", der Geschichte einer Walfang-Dynastie. Sein Bericht über eine Atlantiküberquerung in neuerer Zeit im Segelboot erschien als „Der Freisegler" auf Deutsch. Auch die Biografie von Robert FitzRoy, dem Kapitän der „Beagle", auf der Charles Darwin Mitte des 19. Jahrhunderts Südamerika umfuhr, wurde übersetzt.

Als Handlungsort für einen Roman, der am Meer spielt und in welchem sich auch glamouröse Figuren wie Lulu spreizen, eignet sich der koloniale Sea Club vortrefflich. Im wirklichen Leben ging es hier zuweilen ebenfalls oh-là-là-haft zu. „Bond-Darsteller Sean Connery hatte mit anderen Frauen Spaß am Pool", weiß Hotelchef Luis Cumberlege, der den Betrieb mit seinem Sohn am Laufen hält. „Auch sein Kollege Michael Caine war bei uns."

So sehr sich Cala Ratjada in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Art Mini-Ballermann entwickelt hat, so intensiv spürt man weiter den Geist des Anarchisch-Freien und zugleich Intellektuellen, wenn man im Sea Club an der Bar sitzt und die beiden kurzbeinigen Hunde des Besitzers um einen herumwieseln. Ehrwürdig wird´s im Wohnzimmer des Haupthauses, wo in Sichtweite des schäumenden blau-grünen Meers ein großes Gemälde und eine Büste „den Admiral" in Erinnerung rufen, wie Claude Cumberlege hier nur genannt wird. Diese spezielle Atmosphäre lockt weiter Menschen an, denen ein schnöder Luxustempel zu unpersönlich ist: „Ein britischer Minister macht hier jeden Sommer Urlaub", weiß Luis

Cumberlege.

Sein Vater hatte das außen unscheinbare blütenweiße Anwesen von einem Spanier gekauft. „Dessen Familie war auf Puerto Rico mit Zucker und leider auch Sklavenhandel zu Geld gekommen", so der oft und gern laut lachende Luis Cumberlege, der freimütig bekennt, eine Leberkrebserkrankung überstanden zu haben. Schriftsteller Peter Nichols klopft ihm freundlich auf die Schulter und sagt: „Ohne dich, den Sea Club und Cala Ratjada gäbe es mein Buch nicht."