Zur Begrüßung streckt Fabian Boutique - ganz nach deutscher ­Manier - die Hand entgegen. Dann beugt er sich vor und haucht zwei besos auf die Wangen. Deutsch? Spanisch? Alles kein Problem. Auch Mallorquinisch, Englisch und Französisch hat Fabian Boutique im Repertoire. Er ist einer von vielen jungen Menschen, die in Cala Ratjada im Nordosten von Mallorca geboren oder aufgewachsen sind, deren Eltern aber ursprünglich aus Deutschland kommen.

Wer sich mit Fabian Boutique auf Deutsch unterhält, würde nicht auf die Idee kommen, dass der 22-Jährige Deutschland nur von vereinzelten Urlauben kennt. Er spricht fließend und akzentfrei, wirkt erwachsen, reflektiert, ­zielstrebig - und das, obwohl seine Kindheit alles andere als einfach war. Seine Eltern trennten sich früh, immer wieder zog er auf der Insel um, immer wieder kehrte er in sein Heimatdorf Cala Ratjada zurück. Hier hat er Freunde, und hier entstand vor gut vier Jahren die Idee, etwas aufzubauen, was es so noch nicht im Urlaubsort gibt: eine Anlaufstelle für Touristen, die alle möglichen Ausflugsangebote bündelt und selbst Exkursionen anbietet. „Wir sehen uns als unabhängige Reiseleiter. Als Vertrauensperson und Ansprechpartner für die Urlauber aus den Hostals, in denen es keine Reiseleitung gibt." „Mallorca Holidays" heißt das Unternehmen, das Fabian Boutique zusammen mit dem Spanier Alekos Carríl (24) und dem Mazedonier Almir Mustafa vor drei Jahren eröffnete. ­Praktisch ohne einen Cent Startkapital. Mittlerweile kann Fabian Boutique von den Einnahmen leben. „Uns ging es nie darum, reich zu werden, sondern um Freiheit. Darum, sein eigener Chef zu sein und Spaß an seiner Arbeit zu haben."

Boutique hat es geschafft, sich in Cala Ratjada beruflich zu verwirklichen. Durch Ausdauer, Kontinuität, Kompromissbereitschaft und den ständigen Austausch mit seinen Freunden und Geschäftspartnern, sagt er. Seine perfekten Spanisch-, Mallorquinisch- und Deutschkenntnisse dürften aber wohl auch ein Grund für seinen Erfolg sein. „Ich glaube, viele Spanier hier setzen sich sehr unter Druck. Sie haben immer im Hinterkopf, unbedingt Deutsch lernen zu müssen, um einen Job zu finden oder weiterzukommen." Diese unterschwellige Angst hatte Fabian nie. „Mir ist klar, dass ich in Cala Ratjada immer Arbeit finde, wenn ich sie brauche." Es sei ein unfairer Vorteil, den die Deutschen der zweiten Generation haben, findet er. „Den Deutschunterricht in den Schulen hier kann man vergessen. Da lernen die Einheimischen gar nichts."

Angst davor, in Cala Ratjada mal ohne Arbeit dazustehen, hat auch Constantin Dankelmann nicht. Er wurde in Rumänien geboren, im Alter von zwei Jahren aber von einem deutschen Ehepaar aus Cala Ratjada adoptiert. Deutsches TV, deutsches Essen, deutsche Pünktlichkeit - all das hat ihn von klein auf begleitet. Gleichzeitig fiel er mit seinen dunklen Haaren und Augen nie auf, wenn er unter Spaniern war. Und sprachlich sowieso nicht. „Den meisten Arbeitgebern hier sind die Sprachen sogar wichtiger als die Qualifikationen, die ein Arbeitssuchender mitbringt", bewertet er. Nach einer Matrosenausbildung in Palma kehrte Constantin Dankelmann nach Cala Ratjada zurück. „Hier habe ich bessere berufliche Aussichten", sagt er. Er selbst kann kaum sagen, in wie vielen Bars und Restaurants im Ort er bereits gejobbt hat. In dieser Saison ist er für drei verschiedene Unternehmen tätig. „Ich will Erfahrungen sammeln, Geld sparen und aus den Erfolgen und Misserfolgen lernen, die ich in den Betrieben miterlebe. Und in zwei, drei Jahren mache ich dann meine eigene Bar auf", so der 19-Jährige. Auch er wirkt älter, als es auf dem Papier steht, auch er blickt gelassen in die Zukunft. „Hier ist meine Heimat. Dauerhaft woanders hinzugehen, kann ich mir momentan nicht vorstellen."

Constantin Dankelmann weiß aber auch, dass nicht alle Kinder deutscher Einwanderer so zufrieden sind wie er. „Ich kenne auch viele, die mit 18 direkt nach Deutschland gezogen sind, um dort zu studieren." Man müsse unterscheiden zwischen denjenigen, die praktisch ihre gesamte Kindheit auf Mallorca verbracht haben und denjenigen, die schon älter waren, als ihre Eltern mit ihnen nach Cala Ratjada zogen. „Denen fällt es oft schwer sich einzuleben. Auch in der Schule haben sie es nicht immer leicht", weiß Constantin. „Wir, die hier aufgewachsen sind, gehörten für die mallorquinischen Kinder immer dazu. Aber die Neuen, die erst später kamen, wurden oft gemobbt", erinnert sich auch Fabian Boutique. Er habe die Deutschen dann oft verteidigt. „Es ist interessant, dass frische Auswandererfamilien ganz oft gezielt den Kontakt zu anderen deutschen Familien suchen, auch die Kinder." Die, die hier geboren werden, bräuchten diesen deutschen Bezug dagegen nicht. „Natürlich kennt man schon viele andere Deutschstämmige. Aber selbst wenn wir mal unter uns sind, reden wir dann in der Regel Spanisch."

Jeff Nitschke war bereits fast zehn Jahre alt, als er mit seinen Eltern und seiner Schwester von seiner Heimat Berlin nach Sant Llorenç zog, rund 20 Kilometer südlich von Cala Ratjada. „Es ist schon schwer am Anfang, wegen der zwei neuen Sprachen. Aber in Sant Llorenç hatte ich Glück auf der Schule. Ich war der einzige Deutsche, und alle waren supernett und hilfsbereit." Rück­blickend kann der heute 28-Jährige sagen, dass er nicht einen Tag lang den Drang hatte, nach Deutschland zurückzukehren. Anders als seine fünf Jahre ältere Schwester. „Für die war es sehr hart. Sie ist letztlich auch nicht hier­geblieben."

Nach dem Fachabitur in Artà zog es Jeff Nitschke fast automatisch nach Cala Ratjada, wo seine Sprachkenntnisse ihm Tür und Tor öffneten. Acht Jahre lang arbeitete er dort in der Gastronomie. „Man rutscht da so rein und verdient schnell recht gut." Freunde finden, berufliche Kontakte knüpfen - all das sei in dem Touristenort für Menschen wie ihn ein Kinderspiel. „Aber mir war es immer zu laut dort." Im vergangenen Jahr nahm er dann in Cala Millor eine Stelle als Geschäftsführer in der „Chucca"-Bar an - auch durch Cala-Ratjada-Kontakte. „Wären meine Familie und ich in Deutschland geblieben, dann wäre mein Leben ganz anders verlaufen", ist sich Jeff Nitschke sicher. „Ich hätte studiert, Medizin vielleicht." Und doch reizt ihn Deutschland nicht mehr. „Ich war seit sieben Jahren nicht mehr in meiner Heimatstadt Berlin. Ich fühle mich immer noch als Deutscher, aber ich habe mir viele spanische Eigenschaften angewöhnt, wie Gelassenheit. Und das gefällt mir."

Kulturelle Unterschiede kennt auch Sarah Ferriol nur allzu gut. Ihre Stimme, ihre Gestik - alles an ihr wirkt auf den ersten Eindruck spanisch. Umso mehr erstaunt es, wenn sie dann in fließendem Deutsch zu reden beginnt. Nur bei genauem Hinhören schwingt ab und an ein minimaler, undefinierbarer Akzent mit. „Früher war ich immer genervt von meiner Mutter, wenn sie wollte, dass ich Deutsch mit ihr rede", erinnert sich Sarah. „Heute bin ich ihr superdankbar dafür. Mittlerweile schaue ich sogar gezielt deutsches Fernsehen oder lese deutsche Bücher, um meinen Wortschatz auszubauen. Das hätte ich früher nie gemacht." Sarahs Vater ist ein Mallorquiner „de toda la vida" aus Cala Ratjada, ihre Mutter Österreicherin. Sie gebar ihre Tochter auf der Insel. „Ich fühle mich absolut als Mallorquinerin. Aber trotzdem sagen die Leute immer wieder, dass mein Charakter gemischt ist", erzählt Sarah Ferriol. Wenn sie wütend ist, sei sie mehr die impulsive ­Spanierin, wenn es um Arbeit ­gehe, komme sie aber stark nach ihrer Mutter. „Die Österreicher und die Deutschen sind häufig ehrgeiziger und verantwortungsbewusster als die Spanier", findet sie. Und das sei kein Vorurteil. „Ich habe es so erlebt, als ich in Österreich mehrmals im Winter ein paar Monate im Après-Ski gearbeitet habe." Für die Leute dort war sie natürlich die Mallorquinerin. „Aber mir gefällt die Einstellung zur Arbeit dort."

Tatsächlich mangelt es Sarah nicht an Ehrgeiz. Mit ihren 26 Jahren betreibt sie bereits eine eigene Bar, die „Kultbar Casa Nova" an der Hafenpromenade, gegründet von ihrem österreichischen Patenonkel, der sich immer mehr aus dem Geschäft zurückzieht. Viele Stammkunden seien ältere deutsche Urlauber, so Sarah Ferriol. „Aber seit ich hier immer mehr den Laden übernehme, kommen auch meine Freunde hierhin, also junge Spanier. Da entsteht gerade eine interessante neue Mischung."

Ob sich Sarah auch der Gastronomie verschrieben hätte, wenn sie in Österreich aufgewachsen wäre? Sie blickt nachdenklich drein. „Vermutlich wäre mein Leben dort anders verlaufen. Viele meiner Verwandten in Österreich sind Lehrer. Wer weiß, vielleicht hätte ich das auch gemacht", sagt sie. Wehmut schwingt aber nicht in ihrer Stimme mit. „Cala Ratjada ist meine Heimat, und hier dreht sich nun einmal fast alles um den Tourismus und die Gastronomie. Ich kann davon profitieren, und ich mag es. Ich kenne kein anderes

Leben und will auch kein anderes."