Brennpunktviertel Son Gotleu, Palma de Mallorca: Die Stimmen zweier Männer werden lauter. Beide scheinen betrunken, geraten aneinander, ziehen die Aufmerksamkeit der Kunden in dem kleinen afrikanischen Spezialitätenladen auf sich, der zur Mittagszeit gut gefüllt ist. Eine Frau geht dazwischen, selbstbewusst, stark. „Was ist hier los?", fragt sie in gebrochenem Spanisch. Eine Minute später hat sie den Konflikt gelöst, die Männer beruhigen sich, der eine zieht davon, der andere lässt sich auf einem der Stühle im Laden nieder und bestellt ein Bier. Chinonye Okolie ist eine selbstbewusste Frau. Das war sie schon damals, in ihrem Heimatland Nigeria, wo sie an der Universität in Anambra einen Abschluss in Kommunikationswissenschaften gemacht hat. Als sie 2007 nach Spanien auswanderte, traf sie die Realität hart: Trotz ihrer Ausbildung wollte sie niemand in der Kommunikationsbranche einstellen. „Die bevorzugen halt Mallorquiner", sagt Chinonye. Unterkriegen ließ sie sich davon nicht. Sie stieg im Laden ihres Mannes ein und ist seit vier Jahren stolze Besitzerin einer kleinen Eventagentur. „Das Confía-Programm hat mir geholfen zu vertrauen", sagt sie.

Im 35 Kilometer entfernten Sineu schließt Roberto Nello die Tür zu dem hellen Raum der antiken Sa-Quintana-Schule auf. Nello arbeitet für die gemeinnützige Organisation „Treball Solidari", die vom spanischen Staat und der Balearen-Regierung finanziert wird. Er leitet mehrere der insgesamt 17 Gruppen des Confía-Projekts auf Mallorca. Eine der Gruppen trifft sich heute. „Wie fühlt ihr euch?", fragt er wie zu Beginn jeder Therapiesitzung in die Runde. Die 63-jährige Gloria strahlt. „Ich bin motiviert,

hochmotiviert", sagt sie.

Jeder im Raum in Sineu weiß, dass Gloria aus Ecuador stammt. Und auch, dass die 63-Jährige dort einst Leiterin einer Textilmanufaktur war, mit 25 Angestellten. Dass ihr Unternehmen gut lief, bis in den 90er-Jahren kriegerische Auseinandersetzungen in der Grenzregion zu Peru Glorias Sicherheit gefährdeten und sie ihre Firma schließen musste. Jeder hier hat davon erfahren, dass die Frau, die mit einem Strahlen im Gesicht neben den anderen Platz genommen hat, vor 18 Jahren nach Mallorca kam und praktisch bei null anfing. Und dass ihr Mann momentan sehr krank ist. „Ich habe es nie wieder geschafft, ein ähnliches Unternehmen aufzubauen. Aber ich gebe nicht auf, ich habe Hoffnung, bald wieder Textilien herstellen zu können", sagt Gloria und blickt mit wachen Augen in die Runde, die seit dem Frühjahr 2017 regelmäßig alle zwei Wochen zusammenkommt.

Da ist Anabel, die junge Schauspielerin aus Mexiko, die einmal von ihren Theaterprojekten leben will. Und Yolanda, die gelernte Goldschmiedin aus Barcelona, die gern ein Schmuck-Labor aufbauen würde, in dem sie ihre Kenntnisse an junge Leute weitergeben kann. Und Juana Maria, die Mallorquinerin, die ihren Secondhand-Laden „Ropero" ausbauen möchte. Sie alle haben Visionen, doch ihnen fehlen die finanziellen Mittel - und vielleicht auch der Mut. Ähnlich wie anfangs der stolzen ­Nigerianerin Chinonye in Son Gotleu. Helfen sollen Mikrokredite, die den Frauen im Rahmen des „Confía"-Projekts von der gemeinnützigen Organisation „Treball Solidari" aus Palma gewährt werden. Rund 150 Frauen in verschieden Gruppen auf der ganzen Insel profitieren von den Krediten.

„Hier in Sineu sind wir in der Anfangsphase", sagt Leiter Roberto Nello und stellt seine Tasche auf einen Stuhl. 1.200 Euro bekommt jede Teilnehmerin im ersten Jahr. Nicht gerade eine große Summe, „aber ein Anfang", findet Gloria. Sie könnte davon beispielsweise Stoffe für ihr zukünftiges Textil-Unternehmen kaufen oder eine Nähmaschine. „Das habe ich noch nicht entschieden", sagt sie. Wenn sie das Geld innerhalb von zwölf Monaten zurückzahlen kann, wird ihr ein zweiter Kredit gewährt, dann in Höhe von 2.200 Euro. Stufenweise können sich die Frauen so Jahr für Jahr mehr Geld leihen - proportional steigend zum Vertrauen quasi. Denn das ist die Grundvoraussetzung. Damit „Treball Solidari" Gloria den Kredit gewährt, muss sie keinen Nachweis finanzieller Rücklagen erbringen. Dafür muss sie allerdings regelmäßig an den Gruppentreffen teilnehmen. „Miteinander reden und sich öffnen ist einer der Grundbausteine des Confía-Projekts", erklärt Leiter Antoni Sierra, der an diesem Donnerstag ebenfalls nach Sineu gekommen ist, um zu schauen, wie es läuft. „Die Gruppe entscheidet gemeinsam, ob den einzelnen Frauen ein Kredit gewährt wird, ob sie vertrauenswürdig ist", so Sierra. „Und nur, wenn die Erste auch regelmäßig ihre Raten abbezahlt, bekommt die Zweite ebenfalls einen gewährt."

Fünf Prozent Zinsen nimmt „Treball Solidari" von den Frauen. Wenig im Vergleich zu herkömmlichen Banken, aber auch kein Geschenk, wenn man bedenkt, dass der Gedanke hinter der Geldgabe nicht gewinnorientiert ist und den sozialschwachen Frauen helfen soll, sich selbstständig zu machen. „Klar, wir könnten den Bedürftigen das Geld auch einfach so geben. Aber darum geht es ja nicht. Sie sollen lernen, Geld sinnvoll zu verwalten und es zu vermehren. Und Zinsen sind nun mal Realität", so Sierra.

Lernen, das scheint den Frauen in Sineu ohnehin wichtiger zu sein als das Geld an sich. „Für einige der Teilnehmerinnen sind die Weiterbildungen, die wir geben, viel wertvoller als das Geld", so Roberto Nello. Die Frauen hören genau zu, wenn er zum Thema Führungskompetenzen referiert, wenn er erklärt, wie man einen Business-Plan für ein Start-up erstellt oder sein Unternehmen für wenig Geld in den sozialen Netzwerken optimal platzieren kann. Anderthalb Stunden dauern die Sitzungen.

„Wir haben fast alle Kinder und Verpflichtungen. Die Stunden hier sind wie ein Date mit uns selbst. Endlich mal Zeit, über das eigene Projekt nachzudenken", schwärmt Teilnehmerin Nydia. Chinonye Okolie aus Son Gotleu ist Kredit-Empfängerin der ersten Stunde. Sie war dabei, als im Jahr 2011 die ersten Gruppen, unter anderem in ihrem Stadtteil, gegründet wurden. Auch Chinonye begann mit einem

Kredit von 1.200 Euro, mit den Jahren hat sie insgesamt bereits mehr als 23.000 Euro von „Treball Solidari" bekommen - und diese gut investiert. Zunächst, um den Lebensmittelladen ihres Mannes mit neuen Ideen auf Vordermann zu bringen und dann, um ihre Event-Agentur zu gründen. „Ich organisiere Hochzeiten und Geburtstage", sagt Chinonye. „Das 'Confía'-Programm gibt mir nicht nur Geld, sondern zeigt mir auch, wie ich es einteile und wie ich meine Zeit besser manage."

Noch immer geht Chinonye regelmäßig alle zwei Wochen zu den Treffen ihrer Gruppe in Son Gotleu. „Wir sind wie eine Einheit, jede lernt von der anderen", berichtet sie und zeigt die Straße hinunter. „Viele von uns haben mittlerweile Läden hier im Viertel." Man vertraue sich gegenseitig, „aber vor allem vertrauen wir in uns selbst", sagt sie mit Nachdruck und schaut mit festem Blick auf den Mann, der sich zuvor prügeln wollte. Jetzt sitzt er friedlich da und lächelt.