Carlos Garrido ist ein charmanter Typ. Ein Erzähler. Seit 1975 lebt der gebürtige Katalane auf der Insel. Der 67-Jährige war langjähriger Redakteur diverser Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem der MZ-Schwesterzeitung „Diario de Mallorca". Nebenbei hat er seit Anfang der 80er-Jahre mehr als 50 Bücher geschrieben. Manche persönliche wie „Te lo contaré en un viaje" über den Tod seiner Tochter, manche historische wie diverse Bände über Archäologie. Einen Namen hat er sich aber vor allem mit Büchern über Mystik, Legenden und Esoterik gemacht. Das bekannteste darunter, „Mallorca mágica" (Magisches Mallorca), erschien vor 30 Jahren. Seit einigen Jahren bietet Garrido auch Führungen an, etwa über Palmas Friedhof oder auf der einstigen Kriegsgefangenen-Insel Cabrera, oder erzählt auf der Bühne Anekdoten und Geschichten. Nebenbei ist er als Kolumnist und Musiker tätig. Vor über einem Jahrzehnt sorgte er mit der Band Rock?'n'?press für Furore, als er mit Journalistenkollegen Nachrichten mit Rock?'n'?Roll verband.

Herr Garrido, Sie haben schon in den 80er-Jahren Bücher über Esoterik und Mystik veröffentlicht. Was für einen Ruf hatten diese Wissensgebiete damals?

Damals hat man nicht gerne über solche Sachen gesprochen. Ich habe mich etwa für Okkultismus interessiert, weil mir schon sehr früh klar war, dass das Leben aus mehr besteht als aus dem, was unmittelbar wahrnehmbar ist. Träume oder Vorahnungen sind Beispiele für diesen Teil unserer Existenz, den ich die „B-Seite des Lebens" nenne. Als die Esoterik in Mode kam und überall im Fernsehen auftauchte, habe ich mich mehr dem Historischen, der Archäologie und den Legenden zugewandt, aber auch dem Spiritualismus antiker Zivilisationen, die noch die Verbindung zum „Irrationalen" hielten. Irgendwann bin ich dann bei der Tiefenpsychologie von Carl Gustav Jung gelandet.

Hat diese Esoterik-Mode nicht dazu geführt, dass wir wieder mehr in Kontakt mit dem „Irrationalen" sind?

Nein, sie ist oberflächlich und geschmacklos. Es ist billiger Okkultismus. In unserer technologisierten Welt haben wir die Werkzeuge vergessen, um Zugang zum Unterbewusstsein zu erlangen. Wir sind ständig in Kontakt mit allen anderen, aber nie mit uns selbst. Wir erkennen nicht mehr an, dass jeder Licht- und Schattenseiten hat. Das drückt sich übrigens auch in der Politik aus, etwa im Katalonien-Konflikt oder bei Donald Trump. Es gibt nur die Guten und die Bösen. Aber wir hassen jemand anderes nicht, weil er böse ist, sondern weil wir in ihm etwas erkennen, was wir an uns selbst nicht mögen. Wenn wir das nicht ändern, wird es böse enden.

Wie haben sich die Veränderungen auf Mallorca der vergangenen Jahre auf das ­„Magische Mallorca" ausgewirkt?

Die Internationalisierung hat dazu geführt, dass die ursprüngliche Bevölkerung nur noch einen kleinen Prozentteil ausmacht. Dadurch ist auch deren Kultur nunmehr eher in den Büchern als im echten Leben zu finden. Die Gesellschaft ist bunter und fragmentierter, man kann nicht mehr ohne Weiteres verallgemeinern.

Welche Rolle hat die Mystik in der traditionellen mallorquinischen Gesellschaft gespielt?

Sie drückte sich vor allem in ­Legenden aus, in den traditionellen Märchen, den rondalles. Das hat sich selbst mit dem Anfangsboom des Tourismus nicht groß geändert. Erst als massiv Leute von außerhalb auf die Insel zogen, verloren diese Legenden ihren Sinn. Selbst in den Dörfern. Eines ist meiner Meinung nach absurd: Immer, wenn jemand die Essenz Mallorcas sucht, geht er aufs Land. Aber das Landleben macht nur noch einen Bruchteil der heutigen Gesellschaft aus.

Wo findet man die Essenz heute?

Man findet sie nicht. Das ist das Problem dieser Insel. Jede Gesellschaft braucht einen Spiegel, um sich selbst zu betrachten und sich verorten zu können. Mallorca fehlt dieser Spiegel. Oder er ist zumindest veraltet. Wir benutzen immer noch dieselben Klischees aus den 60er-Jahren, mit denen wir damals Touristen locken wollten.

Zum Beispiel?

Die Insel der Ruhe. Die Insel der Strände. Die Ensaimadas. Das alles repräsentiert doch das heutige Mallorca nicht mehr.

Die Gesellschaft hat sich grundlegend verändert.

Und die Medien haben versäumt, den Spiegel dieser Gesellschaft zu aktualisieren. Was

in meiner Straße passiert, was wirklich wichtig ist, darüber berichten sie nicht.

Nämlich?

Der ganze Müll. Die Unordnung. Der Lärm.

Aber darüber wird doch sehr wohl berichtet.

Ja, aber nicht über die Ursachen dieser Missstände. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich immer mehr entzweit. Die Mittelschicht verliert rapide an Boden. Es gibt kaum neue Arbeitsplätze in Kultur, Technologie und Wissenschaft. Stattdessen schlecht bezahlte Jobs, etwa als Kellner. Das wirkt sich auf das gesellschaftliche Zusammenleben aus. Dann hört man: Die Balearen sind eine der reichsten Autonomieregionen Spaniens. Dass ich nicht lache.

Vor 20 Jahren haben Sie die futuristische Satire „Das Mallorca der Deutschen" veröffentlicht. Wie viel davon ist eingetreten?

Darüber habe ich häufig nachgedacht. Ich glaube nicht, dass es eingetreten ist. Die Gesellschaft hat sich diversifiziert. Es sind andere Nationalitäten hinzugekommen. Russen, Schweden. Aber auch Latinos und Afrikaner. Dieses Aufeinanderprallen der Mentalität der Deutschen und der Mallorquiner gibt es heute nicht mehr. Auch wenn es mich immer sehr amüsiert hat.

Sie sind selbst kein gebürtiger Mallorquiner, sondern kamen Mitte der 70er-Jahre hierher. Wie kam es dazu?

Das war Zufall. Beim Militärdienst gab ich Ibiza als Wunschort an - wegen der Hippiekultur. Stattdessen haben die mich nach Mallorca geschickt. Ich habe die Monate nach dem Tod Francos als Soldat erlebt. Währenddessen fing ich an, für das „Diario de Mallorca" unter Pseudonym Artikel über Pink Floyd und H.?P. Lovecraft zu schreiben. Und irgendwann habe ich festgestellt, dass dies hier ein guter Ort ist. Ich habe den Stress von Barcelona nie gemocht.

Wie haben Sie die Insel vorgefunden?

Es war schön ruhig. Man konnte sein Auto vor der Haustür parken. Aber es fehlte an nichts. Es war provinziell in der positivsten Auslegung des Wortes. Und dann waren da die Mallorquiner, die anders, als es uns die Klischees immer weismachen wollen, durchaus offen und einladend waren. Und sind. Heute würde ich, glaube ich, nicht mehr nach Mallorca ziehen. Es gibt zwar noch Orte und Aspekte, die mich bereichern, aber sie haben keine Zukunft mehr. Die Zukunft gehört den Eisdielen und Souvenirshops.

Fühlen Sie sich als Mallorquiner?

Klar, auf jeden Fall. Ich bin seit über 40 Jahren hier. Ich habe zwischendurch sogar fünf Jahre in Barcelona gelebt. Aber das war nicht gut. Die Menschen auf Mallorca sind unvergleichlich. In schwierigen Zeiten waren es immer die mallorquinischen Freunde, die mir geholfen haben. Es ist ein gutes Leben hier. Dafür habe ich viel Geld ausgeschlagen.

Wie das?

Vor ein paar Jahren hat man mir die Chefredaktion einer neuen Zeitung angeboten. Das Gehalt, das mir in Aussicht gestellt wurde, war der Wahnsinn, wobei sie wahrscheinlich eh nicht so viel bezahlt hätten. In dieser Zeit ging ich eines Nachmittags auf der Finca Son Real spazieren. Und dachte: 'Warum für Geld das hier aufgeben? Den Luxus, an einem Mittwochnachmittag spazieren zu gehen. Ohne, dass mich jemand stört.' Also habe ich den Job abgesagt. Das ist für mich das Geheimnis dieser Insel: Es gibt auf Mallorca einen Reichtum, den man nicht mit Geld aufwiegen kann. Also, zumindest war es so, bevor die Mieten so angestiegen sind.

Angesichts Ihrer Vorliebe für die Mystik ist der Journalismus eine kuriose Berufswahl.

Ich hatte nie eine klassische journalistische Berufung. Statt für das Klein-Klein des Alltags habe ich mich immer eher für die großen historischen Zusammenhänge interessiert. Und als Jugendlicher wollte ich ohnehin lieber Rockstar werden.

Mit der Band Rock?'n'?Press haben Sie diese Disziplinen vereinen können.

Das fing alles als Scherz an. Im Jahr 2005 wurde ich zusammen mit ein paar Kollegen vom ­„Diario de Mallorca" für eine Feier der Journalistengewerkschaft gebeten, ein paar Songs zu spielen. Einer davon war „Tengo una oferta de IB3" (Ich habe ein Angebot von IB3 - regionaler Rundfunksender, Anm. d. Red.), eine Coverversion von „Should I Stay Or Should I Go" von The Clash. Die damalige IB3-Chefin Maria Umbert lag damals im Clinch mit der Gewerkschaft. In einer instrumentalen Phase des Songs rief unser Sänger Gabi Rodas „Maria, verpflichte mich, vergewaltige mich". Das nutzte sie, um eine Kampagne gegen uns zu starten. Die Zeitung „El Mundo" brachte diesen „Skandal" drei Tage auf der Titelseite. Die Folge: Wir wurden richtig berühmt und haben in den folgenden fünf Jahren drei Alben aufgenommen und Hunderten Konzerte gespielt.

Dabei haben Sie Nachrichten vertont, oder?

Na ja, es war die Zeit von Ministerpräsident Jaume Matas und Inselratspräsidentin Maria Antònia Munar. Viele Mitglieder dieser Regierungen sind danach ins Gefängnis gewandert. Wir Journalisten wussten von der Korruption, aber konnten nur bedingt darüber berichten, weil es keine Beweise gab. Aber keiner hatte gesagt, dass wir nicht darüber singen konnten. Rock?'n'?Presse hatte etwas von einer Therapie.

Ist Rock?'n'?Roll ein gutes Medium für Nachrichten?

Eine Zeit lang kann es das sein. Für uns kam das Ende, als die ganzen Fälle öffentlich bekannt wurden. Da konnten wir nicht mehr etwas erzählen, über das alle anderen schwiegen. Unter unseren Konzertbesuchern waren übrigens viele Ermittlungsrichter.

Wie sehen Sie den mallorquinischen Journalismus heute?

Der Print-Journalismus, der ja meine Heimat ist, steckt in einer tiefen Krise, aber nicht nur hier. Würde jemand aus den 70er-Jahren eine Zeitreise in die Gegenwart unternehmen, würde er die Welt nicht mehr wiedererkennen. Nur die Zeitungen sind noch so wie damals.

Was sollten wir anders machen?

Die Zeitungen müssen lernen, dass sie nicht mehr als Übermittler von Nachrichten fungieren. Die erreichen uns über das Internet. Stattdessen sollten Sie einordnen, vertiefen. Zeitungen haben einen Vorteil: Auf Papier kann man länger lesen als im Netz. Das muss man nutzen. Es braucht neue Konzepte, neue Formate, eine neue Sprache.

Sie haben sich selbst in den vergangenen Jahren immer mehr vom Autor zum mündlichen Geschichtenerzähler entwickelt. Was für Vorteile hat das gesprochene Wort?

Zum einen ist es billiger. Sich auf die Bühne oder auf einen Friedhof zu stellen und was zu erzählen, ist um ein Vielfaches unkomplizierter, als etwas auf Papier zu drucken. Man braucht nicht mal W-LAN. Und zum anderen liebe ich diesen direkten Kontakt zum Publikum. Der fehlt ja beim

Schreiben völlig.