Die Beschäftigung mit dem Meer galt einst als Männer­domäne. Zumindest in der balearischen Niederlassung des spanischen Meeresforschungsinstituts IEO ist das schon länger her. Seit einigen Jahren sind im Centre Oceanogràfic de les Balears zu 70 Prozent Mitarbeiterinnen beschäftigt. Seit einem Jahr ist auch die Chefin eine Frau: Salud Deudero. In der Wissenschaft ginge es weniger um äußerliche Merkmale als um Leistung, so die 49-Jährige. „Und offenbar schneiden da die Frauen derzeit besser ab." Dabei schätzt Deudero durchaus gemischte Teams. „Wenn das so weitergeht", sagt sie, „kommen wir an den Punkt, dass wir in der Wissenschaft eine Männerquote einführen müssen."

Frau Deudero, es heißt, Sie waren kaum auf der Welt, da fuhren Sie schon aufs Meer heraus.

So ungefähr: Ich bin im Juni geboren. Zwei Wochen später nahmen mich meine Eltern zum ersten Mal mit auf einem llaüt, einem traditionellen mallorquinischen Segelboot. Und seither habe ich eine enge Verbindung zum Meer.

Wie haben Sie das Meer als Kind erlebt?

Ich war schon immer sehr neugierig. Was gibt es da unter Wasser? Die Fische, die Krebse, die Algen. Warum sind sie da? Und welchen Einfluss haben wir Menschen auf ihre Lebenswelt? Diese Fragen haben mich tatsächlich schon als Kind umgetrieben. Aber natürlich genoss und genieße ich auch das Meer. Ich liebe es, darin zu schwimmen und darauf zu segeln.

Sie haben sich später auf Küstenökologie spezialisiert. Wie steht es um das Gleichgewicht der Natur rund um die Balearen?

Das ist ganz einfach: Es ist wie in einem Swimming Pool. Wenn eine oder zwei Personen drin sind, ist alles okay. Wenn plötzlich 50 Leute reinwollen, wird das ­Wasser sehr schnell dreckig. Genau das passiert im Mittelmeer. Zumal es ja ein geschlossenes Meer ist, in dem sich alles sammelt, was wir dort hineinwerfen und einlassen. Egal ob es nun von den Badenden kommt oder aus den Toiletten der Yachten. Wir zerstören die Küste radikal, da braucht man sich nur alte Bilder von Mallorca anzuschauen, um das zu erkennen. Wobei es auch Fortschritte gibt: Die EU hat eine ganze Reihe von Richtlinien und Gesetzen zum Küstenschutz erlassen.

Nicht alle Anrainer des Mittelmeers sind EU-Mitglieder.

Aber auch die Union for the Mediterranean, in der alle Anrainerstaaten vertreten sind, sieht ähnliche Maßgaben vor. Wir müssen uns klar machen, dass wir zusammengehören. Das Mittelmeer mag groß wirken, ist aber nur eine Badewanne. Ein Molekül, das heute in Gibraltar ist, kann in einem Monat an unserer Küste schwimmen. Überhaupt ist das Meer mehr Verbindung als Abgrenzung. Für Migration. Für verschiedene Arten. Für Handel und Transport. Für das Klima. Für Schadstoffe. Vor einigen Jahrzehnten war das vielleicht anders, aber heute verbindet das Meer uns mehr, als es uns trennt.

Wie wirken sich die eingeführten Arten im Mittelmeer aus?

Das Mittelmeer hat von allen Meeren den höchsten Anteil an eingeführten Arten. In Pollença gibt es zum Beispiel seit Kurzem immer mehr Exemplare eines blauen Krebses, der nicht von hier stammt. Wir wissen noch nicht, wie er sich auf andere Arten auswirken wird. Aber auch fremde Algen können ein Problem sein, wenn sie im Mittelmeer gedeihen. Sie können das Nahrungsverhalten der Fische verändern oder die chemischen Bestandteile des Wassers. Oder nehmen wir ein historisches Beispiel: Die Öffnung des Suezkanals brachte eine ganze Reihe neuer Arten ins Mittelmeer. Manche passten sich sehr gut an, sodass sich die Fischer in den Anrainerstaaten nur noch auf diese Arten spezialisierten. Daran sieht man: Die eingeschleppten Arten können auch wirtschaftliche und soziale Konsequenzen nach sich ziehen.

Die Veränderungen sind rasant. Was ist zu tun?

Wir müssen wachsam sein, b­eobachten und notfalls eingreifen. Und das ist nicht so leicht wie auf dem Land. Wir brauchen Taucherausrüstungen, ab einer gewissen Tiefe auch Roboter. Die Erforschung der Meere ist wie die Erforschung des Alls. Es ist eine komplett andere Welt. Sie zu erkunden ist sehr teuer. Was uns betrifft, arbeiten wir in einem Land, das nicht gerade viel in Wissenschaft investiert. Dabei wäre es extrem wichtig, dass wir so häufig wie möglich dort unten nachschauen, was gerade geschieht.

Können Sie ein Beispiel geben?

Etwa die Pinna nobilis (Edle Steckmuschel, Anm. d. Red.), die es nur im Mittelmeer gibt und die wegen des Befalls durch einen Parasiten kurz vor dem Aussterben steht. Dabei ist es die größte und langlebigste Muschel Europas. Wir haben im September 2016 Bescheid gegeben, dass etwas nicht stimmt. Doch es hat sehr lange gedauert, bis irgendetwas unternommen wurde. Man sagte uns immer, dass kein Geld da sei. Es scheint, dass es egal ist, wenn eine Art ausstirbt, solange es kein Wal oder eine Schildkröte ist.

Ist die Muschel denn noch zu retten?

Ich glaube kaum.

Die Balearen leben vom Tourismus. Ein Großteil der Urlauber kommt wegen des Meeres. Was würden Sie diesbezüglich ändern?

Mein Problem ist, dass ich nicht sagen kann, was wie anders gemacht werden müsste. Weil wir in manchen Aspekten mehr über das Meer in der Antarktis wissen als über das vor unserer Haustür. Wie wirken sich die Menschenmengen im Sommer auf die Artenvielfalt aus? Welche Veränderungen gibt es? Ich bin durchaus damit einverstanden, dass wir vom Tourismus leben. Aber wir müssen zusehen, dass wir das beschützen, was die Urlauber suchen. Denn wenn sie an Strände kommen, die voll sind, mit dreckigem Wasser, dann kann das vielleicht einige Jahre gut gehen. Aber nicht lange. Wir müssten also viel mehr wissen. Und das bedeutet langfristige Investition in die Forschung. Als Wissenschaftlerin brauche ich Fakten. Ich kann mir ja nicht einfach etwas ausdenken.

Gleichzeitig kann ja sicherlich jeder darauf aufpassen, dass er dem Meer nicht schadet. Worauf achten Sie, wenn Sie baden gehen?

Das mag blöd klingen, aber es sind ganz einfache Dinge: Ich benutze keine Sonnencreme, bevor ich ins Wasser gehe. Ich pinkele nicht ins Meer. Wenn ich schnorchele, lasse ich alles, was ich sehe, da, wo es ist. Wenn ich mit einem Boot ankere, tue ich das auf Sand. Ich versuche, keinen Lärm zu machen, also keine Jetskis und andere motor­betriebene Gefährte zu nutzen.

Was hat es mit dem Lärm auf sich?

Der Lärm ist eine der größten Belastungen für das Meer. Lärm machen nicht nur die Motoren, sondern etwa auch die Sonare, die jedes Schiff hat. Häufig werden sie angelassen, weil man sich denkt: Passiert ja nichts. Aber doch, es passiert sehr viel. Es ist, als ob ich in meiner Wohnung rund um die Uhr Baustellenlärm hätte. Wir bombardieren das Meer mit Lärm. Es gibt sehr klangempfindliche Tiere, wie Delfine oder Wale, die über Echoortung miteinander kommunizieren und sich orientieren. Aber auch andere Tiere sind betroffen, etwa die Krebse. Und das ist das, was wir bisher wissen. Welche anderen Auswirkungen der Lärm haben kann - ob er etwa Taubheit verursachen kann - wissen wir nicht. Allerdings bin ich in diesem Punkt optimistisch.

Inwiefern?

Weil auch hier EU-Richtlinien zur Lärmbekämpfung erarbeitet worden sind. Und weil die neuen Technologien viel bringen können. Allein wenn wir herkömmliche Motoren durch Elektromotoren austauschten, könnten wir den Lärmpegel im Meer radikal senken. Damit würden auch neue Arbeitsplätze geschaffen werden, sei es im Bereich der technologischen Entwicklung oder der Wartung. Umweltschutz kann sehr gut für die Wirtschaft sein.

Im vergangenen Sommer schreckte ein Blauhai Badegäste an mehreren mallorquinischen Stränden auf. Was denken Sie als Wissenschaftlerin, wenn Sie so eine Nachricht hören?

Zum einen sehe ich die Sensationslust der Medien, vor allem im Onlinebereich. „Blauhai vor Mallorca", das bringt Klicks. Was fehlte, war der Kontext. Ein Blauhai wird niemals einen Touristen auffressen. Wir sind hier nicht bei Steven Spielberg. Wenn ein Blauhai an den Strand schwimmt, dann weil er sich verirrt hat oder verletzt ist. Ob das jetzt durch Lärm, elektromagnetische Schwingungen oder durch etwas anderes verursacht wurde, kann ich aus dem Stegreif nicht sagen.

Welche Meerestiere können wir noch guten Gewissens essen?

Kleine Fische wie Sardinen oder Sardellen sind nachhaltiger als ein Thunfisch, weil sie kleiner sind und schneller nachwachsen. Je niedriger in der Nahrungskette, desto weniger Ressourcen werden verbraucht. Der Fang eines mero (Brauner Zackenbarsch, Anm. d. Red.), der mehrere Jahrzehnte leben kann, ist ein viel größerer Eingriff als der Fang kleinerer Lebewesen. Auch Algen wären eine gute Nahrungsquelle, anders als in Asien ist man damit hier aber noch nicht so vertraut.

Was haben Algen für Vorteile?

Sie sind sehr nährstoffreich. Wobei das jetzt kein Aufruf sein soll, im Meer Algen zu ernten, um sie danach in den Salat zu schneiden. Man muss sich schon auskennen und wissen, welche davon essbar sind. Ein weiteres Nahrungsmittel der Zukunft ist übrigens Plankton. Das ist jetzt noch ein wenig Science-Fiction, aber die Forschung ist im Gang. Ruderfußkrebse etwa könnten ein wichtiger Proteinlieferant sein. Das wäre auch nachhaltig, weil sie sehr schnell wachsen.

Was ist mit der Schadstoffbelastung bei Speisefischen?

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht logisch erscheint, sind Fische aus Aquakulturen weniger schadstoffbelastet als der Wildfang. Das liegt an der großen Verschmutzung der Meere und den ständigen Tests, die in Aquakulturen durchgeführt werden. Allerdings schmeckt Wildfang besser.

Essen Sie selbst noch Fisch?

Ja, natürlich. Aber teilweise ist er doch sehr teuer geworden.

Zum Abschluss: Wie würden Sie jemanden das Meer beschreiben, der es noch nie gesehen hat?

Es ist der Ursprung des Lebens und die Zukunft der Menschheit.

Warum die Zukunft?

Das Meer wird uns neue Nahrungsmittel, Medikamente und Gene geben, es liefert Sauerstoff, es beeinflusst das Klima. Unsere Zukunft ist mehr im Meer als auf der Erde. Das Meer ist die Antriebskraft der Atmosphäre. Und auf persönlicher Ebene: Ich kann nicht ohne das Meer leben. Wenn man mir das Meer nimmt, entreißt man mir einen wichtigen Teil meiner Persönlichkeit.