Der kanadische Regisseur und Drehbuchautor Paul Haggis („Crash", „Million Dollar Baby") war Ende Oktober der Stargast beim kleinen, aber feinen Evolution Mallorca International Film Festival in Palma. Bei einer Presse­konferenz plädierte er dafür, das Thema sexuelle Übergriffe in der Filmindustrie sehr ernst zu nehmen und nicht lockerzulassen. Wenige Wochen später erfasste die Debatte auch ihn selbst: Eine Werbeagentin reichte Klage gegen den dreifachen Oscar-Preisträger ein, weil er sie im Januar 2013 vergewaltigt haben soll. Der 64-Jährige streitet das vehement ab und beschuldigt sie der Erpressung. Wie vergangene Woche bekannt wurde, haben sich aber inzwischen drei weitere Frauen der Klage angeschlossen. Auch sie sollen von Haggis sexuell belästigt worden sein. Wir baten die Gründerin und Leiterin des Evolution Film Festivals, Sandra Seeling, per E-Mail um eine Einschätzung. Die deutsch-mallorquinische Schauspielerin lebt in Los Angeles.

Was halten Sie von den Vorwürfen gegen Paul Haggis?

Die Vorwürfe haben mich zutiefst erschüttert und überrascht. Sexuelle Angriffe jeglicher Art, seien sie psychisch oder körperlich, dürfen in der Filmindustrie ebenso wenig wie in jedem anderen Umfeld akzeptiert oder toleriert werden.

Wie haben Sie Paul Haggis erlebt?

Ich habe Paul Haggis als einen netten und aufgeschlossenen Menschen erlebt.

Fühlen Sie sich von ihm hinters Licht geführt?

Diese Anschuldigungen stehen nun in aller Öffentlichkeit gegen ihn im Raum. Aber ich maße mir nicht an, darüber zu spekulieren. Das steht mir auch gar nicht zu.

Paul Haggis bestreitet die Vorwürfe vehement - ebenso wie sein deutscher Kollege Dieter Wedel, gegen den dieser Tage ähnliche Anschuldigungen laut wurden. Manche warnen vor „medialen Hinrichtungen". Was sagen Sie dazu?

Wenn die Schuld eines vermeintlichen Täters bewiesen ist, ist es immer noch früh genug, das medial auszuwerten. Gleichzeitig müssen die Vorwürfe sehr ernst genommen werden. Es ist eine unglaublich sensible Situation, die mit extremer Vorsicht zu beurteilen ist.

Ein Argument, das immer wieder ins Feld geführt wird, ist, dass die Frauen sich ja nicht auf bestimmte Dinge einlassen brauchten - etwa auf ein Vorsprechen in einem Hotelzimmer - und dass viele von ihnen bereit waren und sind, sehr weit zu gehen, um an eine Rolle zu kommen. Was sagen Sie dazu?

Daran ist die Gesellschaft schuld. Die Männer müssen uns Frauen als ihresgleichen ansehen, und die Frauen müssen sich auch so verhalten: Stärke zeigen, den eigenen Wert erkennen sowie ihre Integrität bewahren. Die Frauen müssen den Männern klar signalisieren, so geht es nicht.

Sie leben seit 2004 als Schauspielerin und Festivalmacherin in Los Angeles. Haben auch Sie schon mal solche Situationen erlebt?

Ja, ich persönlich habe schon viele Situationen erlebt, wo Männer ihren Status, ihren Erfolg oder ihren Reichtum - kurz: ihre Macht - benutzten, um Frauen kleinzu­machen, sie zu unterdrücken oder zu erpressen. Warum denken manche Männer, dass sie das machen dürften? Weil es funktioniert! Also liegt der erste Schritt bei den Frauen. Wir müssen diesen Männern klar signalisieren, dass es so nicht geht. Wir Frauen müssen unsere Haltung überprüfen, unsere Stimmen benutzen und klare Ansagen machen: Time's up!

Weinstein, Spacey und all die anderen: Die sogenannte #metoo-Debatte hat Hollywood zutiefst aufgewühlt, wie auch jetzt wieder bei der Golden-Globe-Verleihung zu sehen war. Wie erleben Sie das vor Ort?

Hautnah. Es ist ein unglaubliches Gefühl, dass sich hier unter Frauen (und Männern) verbreitet. Es wird eine community geschaffen, in der einem die Angst genommen wird, die eigene Geschichte mitzuteilen. Es ist okay, unsicher zu sein. Viele Frauen entdecken ihre Kraft, indem sie ihre Geschichten mitteilen, sich davon lösen und dadurch stärker werden. Gleichberechtigung ist ein globales Thema, das individuell gestärkt werden muss.