Silke Sommer mag es, Leute zu beobachten. „Das könnte ich den ganzen Tag machen", sagt sie und blickt demonstrativ auf eine Gruppe Jugendlicher, die durch das Santa-Catalina-Viertel in Palma de Mallorca schlendern. Wie bewegen sie sich? Wie gestikulieren sie? Welche Kleidung tragen sie? „Ich habe mal überlegt, Journalistin zu werden", sagt Silke Sommer. Weil sie es liebt, sich in Menschen hineinzuversetzen, sie kennenzulernen, ihre Geschichten zu hören und ihre Angewohnheiten und Biografien zu studieren.

Doch Silke Sommer kommt aus einer Familie, die von Kostümen geprägt ist. Verkleidungen, Ausstattung, Schneiderei - Silke Sommer hat all das praktisch mit der Muttermilch aufgesogen. Im Jahr 1864 eröffneten ihre Vorfahren in Dortmund ein Herrenbekleidungsgeschäft, das sich im Laufe der Jahre zu einer Kostümwerkstatt und einem Kostümfundus weiterentwickelte. Vier Generationen vor ihr stellten Kostüme für Schauspielergruppen, später für Theater und Opern zusammen, der Fundus war groß. Auch Silke Sommer ist beruflich in der Branche geblieben. Ihre Leidenschaft, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen, musste sie deshalb aber nicht aufgeben - im Gegenteil. Heute macht sie ihr Einfühlungsvermögen zu einer der gefragtesten Kostümbildnerinnen im deutschen Filmgeschäft.

Götz George, Hannelore Elsner, Iris Berben, Christoph Waltz - sie alle waren bereits auf der Leinwand oder dem Bildschirm mit Kleidung zu sehen, die Silke Sommer für sie ausgesucht hat. Bei mittlerweile mehr als 60 Filmen war sie für die Kostüme verantwortlich, gewann bereits den Deutschen Filmpreis („Rico, Oskar und die Tieferschatten", 2015), den Deutschen Fernsehpreis für Kostümbild („Die Bubi-Scholz-Story", 1999) sowie 2002 und 2004 den Adolf-Grimme-Preis. Schon lange begrenzt sich ihr guter Ruf nicht auf die Grenzen der Bundesrepublik, auch internationale Projekte hat Sommer vorzuweisen. Zeit für Familie ist da nicht. „Aber ich liebe das Reisen", betont sie.

Nie hätte sie sich um eine Stelle beworben, sagt Sommer und klingt dabei erfrischend bodenständig. Die Welt des Glamours liegt ihr nicht. Mit ein Grund, warum es sie nie nach Hollywood gezogen hat. Auch von dort kam vor Jahren mal eine Anfrage, damals für die Produk­tion des Kassenschlagers „Resident Evil". Doch Sommer lehnte ab. „Ich springe nicht, nur weil Hollywood ruft. Ich muss mich mit der Aussage eines Films identifizieren können", erklärt sie schlicht. Und das sei damals nicht der Fall gewesen. Auch Fantasy- oder Science-Fiction-Produktionen gehören nicht zu ihren Lieblingsgenres. Sie mag Filme, die in der Wirklichkeit spielen, bei denen nicht die großen Effekte, sondern die kleinen Details den Ausschlag geben, intellektuelle, aber gerne auch „moderne, poppige", wie sie sagt. Auch Werbung lehnt sie ab. „Auf Mallorca wird ja hauptsächlich für Werbung gedreht. Aber ich kann nicht viel damit anfangen, wenn ein Produkt im Vordergrund steht und nicht ein Mensch und seine Geschichte."

Stattdessen nutzt sie die Insel in ihren arbeitsfreien Phasen zum Entspannen. Seit fünf Jahren hat sie eine Wohnung in Santa Catalina gemietet. „Ich komme so oft, wie es geht", sagt sie. Bei ein bis drei Filmen pro Jahr ist das nicht allzu häufig der Fall - und da ist ja auch noch ihr Wohnsitz in Berlin.

Die Mittfünfzigerin war Anfang 20, als es sie aus Nordrhein-Westfalen in die heutige deutsche Hauptstadt zog. Nach ihrer Schneiderlehre in Düsseldorf trat sie ein Volontariat an der Berliner Oper an und studierte an der Hochschule der Künste, arbeitete unter anderem für den französischen Balletttänzer Maurice Béjart. Der Eintritt ins Filmgeschäft kam für sie unerwartet: Plötzlich sollte sie für Roland

Suso Richters Film „Svens Geheimnis" (1995) die Kostüme machen. Schnell wurden andere Produzenten auf ihre Begeisterung und Leidenschaft aufmerksam. Eine mögliche Rückkehr nach Dortmund ins Geschäft der Eltern war bald kein Thema mehr.

Wenn Silke Sommer ein Drehbuch zugeschickt bekommt, recherchiert sie wochenlang, spricht mit Menschen, besucht die entsprechenden Milieus, überlegt sich, welche Musik die in der Rolle dargestellte Person wohl hört, was sie beschäftigt, wie ihr Alltag aussehen könnte. Ihre Recherchen führen sie je nach Thema in Bordelle, Jugendclubs oder Brennpunktviertel - fast wie im Journalismus. Erst dann begibt sie sich auf die Suche nach geeigneter Kleidung, durchsucht Kostümfundus, Boutiquen und

Secondhand-Läden.

So früh wie möglich versucht Sommer auch, Kontakt mit den Schauspielern aufzunehmen. Haben sie Allergien gegen bestimmte Stoffe? Worin fühlen sie sich besonders wohl? Was geht gar nicht? „Das Wichtigste ist meiner Meinung nach, dass sie sich in ihrem Kostüm gut bewegen können", so Sommer. „Es soll sie wie eine zweite Haut durch den Film tragen und sie weder einschränken noch offensichtlich verkleiden", sagt sie. Ihr Motto: Ein gutes Kostüm sieht man nicht. Oft dauert die Anprobe bei Silke Sommer viele Stunden. Auch dann gelte es, auf die Schauspieler einzugehen - zumindest bis zu einem gewissen Punkt. „Man muss sie sanft in eine Richtung leiten, ohne sie zu übergehen."

Dass so lange Recherchen meist nicht im Filmbudget inbegriffen sind, ändert nichts an der Tatsache, dass sich Silke Sommer die Zeit dafür nimmt. „Ich versuche aus allem, was ich angehe, ein Werk zu machen." Nicht immer werde das wertgeschätzt. Vor allem nicht in Deutschland. „In Spanien hat die Kostümbildnerei grundsätzlich einen höheren Stellenwert." Es sei nicht leicht, sich zwischen den oft widersprüchlichen Ansprüchen der Produzenten und der Regisseure zu behaupten. Trotzdem ist sie am Set jedes Mal dabei, ändert je nach Bildausschnitt noch schnell die Kleiderfarbe eines Komparsen im Hintergrund oder zupft einen Hemdkragen zurecht. „Diese letzten Perfektionen sind meine Lieblingsarbeiten", sagt Silke Sommer.

Sie geht auf in ihrer Arbeit, das merkt man, wenn sie davon erzählt - auch wenn sie das Gefühl hat, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten vieles zum Negativen verändert hat. Die Budgets seien kleiner geworden und mit ihnen die Zahl der Mitarbeiter, ebenso die Auswahlmöglichkeiten bei der Kostümbeschaffung. Das habe sich auch beim Dortmunder Familienbetrieb bemerkbar gemacht. Vor gut drei Jahren verkaufte Sommer schweren Herzens den Kostümfundus im Ruhrgebiet. Auch, weil viele Produktionen dann doch lieber auf Billigware internationaler Modeketten setzen statt auf hochwertige oder originelle Einzelstücke.

In den kommenden Monaten wird Sommer für den Weimarer „Tatort" die Kostüme machen, der von ihr mitgestaltete Kinofilm „Professor Wall im Bordell" wird in diesem Jahr über die Leinwand flimmern. Wieder diese Begeisterung:„Ich bin stets auf der Suche nach neuen Horizonten", sagt sie. Dazu gehört auch, mit Künstlern statt mit klassischen Filmemachern zusammenzuarbeiten. Besonders der israelische Videokünstler Omer Fast hat es Silke Sommer angetan. „Dann ist er der Künstler, und ich unterstütze, bei Kinoproduktionen bin ich die Künstlerin."