Die Hütten sind aus Lehm, provisorisch. Auf dem Boden liegen Teppiche, direkt auf dem Sand. Es gibt nur ein Zimmer. Hier schläft die ganze Familie der kleinen Keltum, auf Matratzen, die tagsüber zu Sitzgelegenheiten werden. sKein fließendes Wasser, keine Toiletten. „Wie auf einem anderen Planeten", erinnert sich Alia Guerra. Im Jahr 2005 reiste die Spanierin in eines der Flüchtlingscamps in der algerischen Sahara, schlief bei ihrer Gastfamilie, erlebte eine Woche lang den einfachen Alltag. Ohne Straßen, ohne Infrastruktur, im warmen Staub der Wüste. „Es war nicht die Wüste, wie man sie von Postkarten kennt. Oder die, die ich in meiner Kindheit mit meinen Eltern bereist habe. Sondern hässliche, trostlose Wüste", sagt Guerra. Und doch: „Als ich zurückkam, dachte ich: Wie sehr wir in Europa uns doch das Leben verkomplizieren. Dabei kann man mit so wenig auskommen." Gleichzeitig war ihr klar: „Für die Kinder von dort ist Mallorca ebenfalls ein anderer Planet."

Alia Guerra weiß, wovon sie redet. Fünf Sommer in Folge, von 2005 bis 2009, nahm sie Keltum in ihrem Haus in Costitx im Inselinneren auf, ein kleines Mädchen der Ethnie der Sahrauis, dem Nomadenvolk, das seit Jahrzehnten in jenen staubigen Flüchtlingscamps in Algerien haust. Und fünf Sommer lang weinte Keltum fast jeden Tag, wenn sie bei Guerra und ihrer Familie auf Mallorca war. Aus Heimweh, weil sie ihre Mutter vermisste, und vielleicht auch, weil ihr diese andere Welt auf Mallorca einfach zu viel war. Dabei ist die Intention hinter dem Austausch-Programm mit Spanien eigentlich gut. Hier sollen die Kinder aus den Camps Ferien ohne Armut, ohne unerträgliche Wüstenhitze erfahren. Dafür sorgt die Organisation Associació d'Amics del Poble Sahrauí, die jedes Jahr aufs neue Gastfamilien sucht und die Reise organisiert. „Die meisten leben sich ganz schnell ein, Keltum war eine Ausnahme. Aber am Anfang ist es für alle ein Schock", so Guerra.

Auch in diesem Sommer sind wieder 94 Sahouri-Kinder auf Mallorca. In der Erdgeschosswohnung der Familie Illan-Castrillo in Manacor toben Marcos (7) und Mahmud (11) auf dem Sofa, balgen sich, lachen laut. Marcos Eltern Naty und Jesús sehen den Kindern lächelnd zu. Plötzlich zieht Mahmud Naty zu sich herunter, drückt sie herzlich. Es wirkt alltäglich, selbstverständlich. Kaum zu glauben, dass Mahmud erst vor wenigen Wochen zur Familie hinzugestoßen ist, dass sie sich nie zuvor gesehen haben. Und das für ihn bis dahin auch die alltäglichsten Dinge alles andere als selbstverständlich waren. Die Autos draußen, die Wohnung. Und die Wasserhähne erst.

„An den ersten Tagen warst du ziemlich erschrocken, stimmt's", sagt Naty und lächelt ihrem Gastsohn aufmunternd zu. Der nickt nur. „Wenn wir alleine sind, redet er auch", sagt Marcos und knufft seinem Gastbruder freundschaftlich in die Seite. Der erste Besuch im Supermarkt, der erste Gang durch das Zentrum von Manacor, die erste Nacht in dem weichen Bett, das nun zusätzlich in Marcos Zimmer gestellt wurde - alles war für Mahmud neu. „Aber er hat sich schnell an alles gewöhnt", sagt Jesús. „Naja, beim Duschen verspritzt er immer noch ganz viel Wasser", quiekt Marcos. Von Heimweh könne aber nicht die Rede sein. „Wir müssen ihn manchmal daran erinnern, endlich Kontakt mit seiner echten Familie aufzunehmen. Er vergisst das gerne mal."

Weder Naty Castrillo noch ihr Mann Jesús hatten zuvor einen Bezug zur Westsahara. Im April kontaktierten sie die Organisation, gaben an, auch ein Kind aufnehmen zu wollen, am besten einen Jungen, als Spielkameraden für ihren Marcos. Anfang Juli kamen Mahmud und die anderen Kinder an. Kino, Fernsehen, Spielkonsole - all das gefällt dem Elfjährigen. Aber auch kleine Dinge. „Als wir ihm eine alte Armbanduhr gegeben haben, hat er sich so gefreut", sagt Naty und fügt dann nachdenklich hinzu. „Er war aber auch zufrieden, als er angekommen ist, nur mit den Kleidern, die er am Leib trug." Vermutlich sei es nicht nur Mahmud, der von dem Aufenthalt viel mitnehmen werde. „Vor allem sind wir es, die durch ihn lernen."

Alia Guerra kann das rückblickend bestätigen. „Uns allen hat die Zeit mit Keltoum damals den Horizont erweitert. Es ist wie Reisen, ohne sich zu bewegen."