Es gibt eine Wortkombination, bei der ich sofort abschalte: „Geheimtipp" und „Mallorca". Das gilt auch für „Secret Places". So steht es aber Jahr für Jahr in über 80 Prozent aller Reiseberichte, Dokumentationen, Internet-Beiträge und Bücher, die in Deutschland über die Insel erscheinen. Mir kommt's so vor, dass man meint, keinen Touristen hinter dem Ofen hervorlocken zu können, wenn diese Zauber-Wortkombination fehlt.

Auch ich bekenne mich schuldig, in 50 Jahren oft mitgemacht zu haben. Ich fürchtete mich zwar vor Anrufen wie diesem: „Wir hätten gern eine knackige Mallorca-Reportage von Ihnen. Sie kennen doch alle Geheimnisse! Was nicht in den Reiseführern steht, das interessiert uns. 300 Zeilen bis nächsten Dienstag? Honorar wie immer!"

Auf diese Weise gelang es mir durch Unbesonnenheit und Habgier, das romantische Tal von Son Macia zu ruinieren, von dem ich mehrmals schwärmte als Shangri-La zwischen Manacor und der Küste, und es nun nicht mehr tue, da alle 200 Meter ein Neubau steht, errichtet von gläubigen Lesern. Und die südseehafte Cala Varques habe ich auch auf dem Gewissen, nachdem sie 20 Jahre die private Familienbadebucht gewesen war, von niemandem besucht außer uns - bis ich Vollidiot in einem Anfall von Selbstlosigkeit ihre Attraktivität in „Holiday", „Petra", „Bild am Sonntag", „Geo", „Merian" und „Bunte" beschrieb und dafür von meiner Mutter fast enterbt worden wäre, wenn es etwas zu vererben gegeben hätte. Aber sie hatte recht, heute ist das Paradies ein Badebahnhof.

Sie hören jedoch nicht auf mit ihren „Geheimtipps", diese selbst ernannten „Mallorca-Kenner", und sie schämen sich nicht, uns die Museumshalbinsel Sa Bassa Blanca, die Kirche La Porciúncula, eben jene Cala Varques und das Franziskanerkloster in Palma als ihre neuesten Entdeckungen zu verscherbeln (so steht's im eben erschienenen Buch „Secret Places Mallorca"), und finden dann einen, der diese angestaubten „Geheimnisse" (die dennoch sehenswert sind!) druckt und anpreist.

Die Frage ist doch: Existieren überhaupt noch „Insel-Geheimnisse" (um den Titel meines erfolgreichsten Mallorca-Buches locker einzustreuen)? Eine verehrte Kollegin, in Palma ansässig, hat jüngst geschrieben: „Doch die Wahrheit ist, dass es auf Mallorca keinen Geheimtipp mehr gibt, die Insel ist bis ins letzte Eckchen mehr oder weniger touristisch erschlossen."

Ich widerspreche heftigst. Die Insel ist nicht mal zu zehn Prozent „erschlossen", und touristisch schon gleich gar nicht. Mallorca steckt voller Geheimnisse, weil die Eingeborenen sie seit 5.000 Jahren vor allen Nicht-­Mallorquinern verbergen. So haben sie Vandalen, Römer, Araber, Karthager, Byzantiner, Piraten, Festlandsspanier und Touristen überlebt (um nur einige zu nennen), sich ihre Eigenart erhalten und die Insel mit einem ziemlich haltbaren mystischen Schleier umwoben.

Was mich zur zweiten Frage anregt: Sollten die Kenner, und ein paar gibt es unter den Deutschen, den Briten und vor allem den Mallorquinern, ihr Wissen unter die Menschheit bringen, also die „Geheimtipps" zerstören, ohne dafür etwas zu bekommen - außer ein paar mageren Euro, wenn sie Schreiberlinge sind? Ich höre ein klares „Ja" bei den

Touristen und ein gespaltenes „Nein" bei den Residenten.

Man möge mir glauben: Nur einer von 100 „Mallorca-Kennern" ist durch Wissen befugt zur Behauptung, er kenne „Geheimes". Das natürlich keineswegs geheim ist, sondern Hunderten bekannt auf der Insel, eben nur nicht 99,5 von 100 Touristen. Und wenn diese Zeitung mir eine Doppelseite schenken würde, könnte ich einen Ali-Baba-Schatz an Geheimtipps ausbreiten und die unbekannten Schönheiten Mallorcas schneller verwüsten als der Vandalenkönig Gelimer. Aber ich tu's nicht (mehr).

Nun könnte einer kommen und mich bespötteln: „Mallorca nicht mal zu 10 Prozent erschlossen? So ein Unsinn!" Dann erlaube ich mir folgende Hinweise: Die Speläologen sitzen auf einem Fundus von Unterwelt-Kathedralen und -Ballsälen, über die sie eisern schweigen. Die Templer sind nicht spurlos verschwunden, was von ihnen blieb, wird nur sorgfältig versteckt. Wer weiß, dass der schönste Sonnenuntergang der Insel vor der Terrasse eines großartigen deutschen Schauspielers (eines echten!) stattfindet?

Die ganze gewaltige Welt des Adels ist Terra incognita, weiße Flecken auf der Inselkarte. Hat schon mal jemand einen der vielen Bauernschwänke gesehen, in denen wir Deutschen jede Woche auf Dorfbühnen köstlichst auf die Schippe genommen werden? Reinen Mallorca-Wein vom Fass für 2,30 Euro den Liter statt in der gepanschten Flasche für 18 Euro - und das ohne Sodbrennen? Bitte, wo bekommt man den? Schon mal eine getigerte gineta live gesehen, einen schneeweißen Uhu oder einen Roten Milan? Und wo ist dieGegend, wo die Nachtigallen jeden Abend einen Eurovision Song Contest veranstalten und sich von keinem menschlichen Zuhörer stören lassen? Und dazu duftet der „Galán de noche" betörend. Bitte, wer? Und es gibt eine zweite Cala Varques, noch geheim, die Caló de?€ - ups, jetzt wäre ich beinahe in die eigene Falle getappt!

Lesen, Leute! In Büchern schmökern, die keine Reiseführer, Krimis oder Liebesschmonzetten sind. Da findet man Geheimtipps. Die wirklich wichtigen Informationen, die nicht dem wankelmütigen Zeitgeist, wirtschaftlichen Interessen und touristischen Launen unterliegen. Die ewigen Schönheiten Mallorcas. Als ich William Graves' Memoiren „Wilde Oliven" las, war das mühsam vor lauter Notizenmachen. So viel „Geheimes" steht da drin, dem ich nachreisen möchte. Und kaum weniger findet sich in Juan Vicens' Kurzgeschichtenbuch „Mein Felsen im Meer".

Komme mir keiner mit dem Satz: „Olle Kamellen, das war doch alles mal!" Denn die schönsten „Geheimtipps" sind jene „Waren einmal", die man heute noch finden kann, und die zu den Erlebnissen gehören, die ewig faszinieren?€

Axel Thorer ist Journalist und Autor von Büchern wie „Mallorca: Lexikon der Inselgeheimnisse" und „Liebeserklärung an Mallorca". Er betreibt seit einigen Jahren den jeden Montag aktualisierten Blog www.mallorca-aaaxel.com