Man hört sie auf Mallorca am Strand, in Bars, in Läden und sogar aus dem Turnbeutel von Jugendlichen heraus, die in den Straßen in der Innenstadt von Palma de Mallorca unterwegs sind: Latino-Musik, genauer gesagt Reggaeton. Vor allem bei den Jüngeren ist keine Musikrichtung angesagter. Die spanischen Top-50 bei der Streaming-Plattform Spotify bestehen praktisch nur noch aus Songs von Künstlern wie J. Balvin, Luis Fonsi, Nicky Yam, Don Omar, Tego Calderón, Daddy Yankee, Maluma, Pedro Capó und Farruko. Von Letzteren beiden stammt „Calma (Remix)", ein Lied, das vielleicht auch Ihnen diesen Sommer in den Ohren liegt: „Vamos pa' la playa, pa' curarte el alma, cierra la pantalla, abre la medalla..." (wörtlich: Lass uns an den Strand, deine Seele heilen, schließ den Bildschirm, öffne die Medaille). Der langsame und simple Grundrhythmus bleibt in Kombina­tion mit der fröhlichen Refrain-Melodie sofort im Gedächtnis und lässt Urlaubsfeeling aufkommen.

Daher kommen Stil und Name

„Wörtlich bedeutet reguetón - das macht die Nachsilbe ,-tón' deutlich - ,etwas Größeres als Reggae' ", sagt Joan Luna, Chefredakteur des Musikmagazins „Mondo Sonoro". „Der Stil ist eine Mischung aus Reggae, Dancehall und Hip-Hop und durch das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen Anfang der 90er-Jahre entstanden, allen voran in Puerto Rico und Panama." In den Tausendern breitete sich dieser Stil mit Songs wie Daddy Yankees „Gasolina" in Amerika aus. Von dort schwappte die Welle nach Spanien, wo viele Jugendliche lateinamerikanische Wurzeln haben. Der definitive internationale Durchbruch kam dann wohl 2017 mit dem Welthit „Despacito". Heute ist Reggaeton auch aus den deutschen Charts und Listen nicht mehr wegzudenken. Waren zunächst die Künstler aus Puerto Rico stilweisend, sind es in jüngster Zeit verstärkt die Kolumbianer. Auch Weltstars wie Madonna springen auf den Zug auf. Die 61-Jährige nahm kürzlich zusammen mit Maluma die Songs „Soltera", „Medellín" und „Bitch I'm Loca" auf.

Daran erkennen Sie Reggaeton

Von anderen Latin-Tracks lassen sich Reggaeton-Lieder wohl am besten durch ihren typischen, von einem Drumcomputer gespielten Rhythmus unterscheiden. Der sogenannte Dembow-Beat, benannt nach dem gleichnamigen Song von Shabba Rank von 1991, ist meist im Vier-Viertel-Takt gehalten (boom ka, boom ka, boom ka, ka). „Die Details sind für Laien etwas schwer zu erklären, jedenfalls animiert der Beat durchgehend zum Tanzen, und wer ein Reggaeton-Lied hört, erkennt das Genre sofort", so Luna. Neben Synthesizerklängen von Bass- und Snaredrum werden Instrumente nur sparsam eingesetzt. Die Künstler würden dazu weder „singen" noch „rappen", sondern beide Gesangsstile mischen.

Hinzu kommt eine grelle Ästhetik: gefärbte Haare mit darin einrasierten Buchstaben oder Formen, knallige Klamotten, klobige Ketten und protzige Ringe aus Gold oder Silber.

Darum geht's in den Texten

Aina Maria Duran hat an der Balearen-Universität (UIB) zum Einfluss des Genres auf Kinder und Jugendliche geforscht. „Die Texte sind in einfacher Sprache gehalten, wobei sich die Reggaeton-Sänger oft an der Ausdrucksweise der Jugendlichen heutzutage orientieren", sagt die 23-jährige Pädagogin. Die Hauptthemen seien die Beziehung zwischen Mann und Frau, Sex, Verführungsstrategien, Party und Drogen - so gesehen das altbekannte Lied von Sex, Drogen und Rock'n'Roll. „Viele Reggaeton-Sänger legen dabei den Fokus jedoch klar auf das Körperliche", unterstreicht Aina Maria Duran. Werte wie Respekt, Kommunikation auf Augenhöhe und echte Gefühle kämen

weniger zur Sprache.

Daher hagelt es Kritik

Die sich lustvoll rekelnden Frauen liegen den Männern zu Füßen - im landläufigen Reggaeton geht es kaum um gleichberechtigte Beziehungen. Das gilt für die Videos ebenso wie für die mit Obszönitäten und Doppeldeutigkeiten gespickten Texte. „So manche Zeile lässt viel Interpretationsspielraum", bemerkt die UIB-Pädagogin. In dem Song „Gasolina" von Daddy Yankee etwa singt die Sängerin Glory an einer Stelle „Dame más gasolina" (Gib mir mehr Benzin). „Gasolina" (Benzin), so liest man in einigen Kritiken im Netz, würde für viele Lateinamerikaner in diesem Zusammenhang „Sperma" bedeuten.

Der Sexismus-Vorwurf zeigt mittlerweile Wirkung. Wo der Reggaeton im Mainstream angelangt ist, wird er zahmer. So distanziert sich der derzeitige Superstar J. Balvin aus Kolumbien in Interviews wie auch in seinem Hit „Mi gente" explizit davon, Frauen zu erniedrigen. „Mi música no discrimina a nadie" (Meine Musik diskriminiert niemanden), singt er. In seinem aktuell wohl bekanntesten Lied „Loco contigo" heißt es dennoch „Tell your best friend, she get one too" (Sag deiner besten Freundin, sie bekommt auch einen ... Mann?) oder „Tú pide lo que quieras... Que yo lo hago a tu manera. (Sag mir, was du willst... oder wie du es willst und ich mache es so, wie du es willst.)

„Die Einzigen, die dafür sorgen können, dass es eine Veränderung gibt, sind die Frauen", sagte J. Balvin kürzlich in einem Interview mit der spanischen Nachrichtenagentur Efe. Das machen sie bereits. In jüngster Zeit sind immer mehr feministische Reggaeton-Gruppen aufgekommen. Hören Sie mal rein: Ivy Queen, Miss Bolivia, Rebecca Lane oder

Tremenda Jauria.