Jeder von uns handelt in seinem Alltag auf andere Weise altruistisch, also uneigennützig, wenn er etwa Geld spendet, ehrenamtlich tätig ist oder Freunden Ratschläge gibt. Carme Isern (28) aus Palma de Mallorca hat Philosophie studiert und sich in ihrer Doktorarbeit an der Balearen-Universität mit der Frage beschäftigt, was uns zu moralischem Handeln bewegt. Sie hat dabei sowohl die entwicklungsgeschichtlichen Ursprünge des altruistischen Handelns als auch die psychologischen und philosophischen Konsequenzen daraus untersucht.

Was halten Sie von dem Satz „Jeden Tag eine gute Tat"?

Er hilft uns vor allem im Umgang mit Fremden. Während wir für Freunde oder Geschwister wie automatisch da sind, wenn sie unsere Hilfe brauchen, ist dasselbe Verhalten gegenüber Fremden nicht selbstverständlich. Daher kann der Satz gut als Norm dienen, die das ­Zusammenleben erleichtert.

Was veranlasst uns dazu, uneigennützig zu handeln?

Wir sind eine soziale Spezies. Unsere Vorfahren haben schon vor vielen Jahren gelernt, zusammenzuarbeiten und nicht gegeneinander. Nur so konnten sie überleben, etwa wenn Nahrung knapp wurde. Diese Strategie hat sich in der Evolution durchgesetzt. In einer zweiten Phase haben sich dann bestimmte Normen zum Verhalten gegenüber unseren Mitmenschen herausgebildet, nach denen wir bis heute handeln.

Tun wir anderen Menschen letztlich also nicht nur Gutes, um uns selbst besser zu ­fühlen, was dann ja Egoismus wäre?

Wenn ich Schüler unterrichte, kommen oft Fragen wie, ob man seiner Oma nur hilft, den Abwasch zu machen, weil man sich sonst schlecht fühlen würde. Meine Theorie ist: ­Zunächst helfe ich meiner Oma, weil ich will. Erst danach fühle ich mich noch dazu gut. Für mich zeigt zudem schon die Tatsache, dass wir uns gut oder schlecht fühlen, wenn wir andere unterstützen oder nicht, dass wir ein bisschen altruistisch sind. Wären wir total egoistisch, würden wir ihnen vielleicht helfen und im Gegenzug etwas erwarten. Das wiederum könnte uns dann aber gar kein gutes Gefühl geben, wenn die anderen uns egal sind.

Inwiefern beeinflussen Kultur und Erziehung uneigennütziges Handeln?

Wir alle werden in einer Kultur geboren, in der bereits bestimmte Werte existieren. Jeder bekommt die Fähigkeit in die Wiege gelegt, Normen zu verstehen und sie einzuhalten. Schon von klein auf ist es also unsere Aufgabe, uns mit den in unserer Gesellschaft gültigen Normen vertraut zu machen: Wie ziehe ich mich an? Wie drücke ich mich aus? Wie bewege ich die Hände dazu? Dabei lernen wir auch, wie wir uns gegenüber unseren Mitmenschen zu verhalten haben, wann es etwa notwendig ist, ihnen zu helfen, und in welcher Form. Eltern wie auch Lehrer oder Freunde unterstützen uns dabei, dies zu erkennen und umzusetzen.

Wie bilden wir dann unser eigenes mora­lisches Urteilsvermögen, das die Basis für ­unser Handeln bildet?

In unserem Alltag werden wir uns bewusst, dass es verschiedene moralische Stufen gibt. In einem Zusammenhang denken wir vielleicht „Das gefällt mir nicht", in einem anderen „Das ist nicht gut". Erst danach kommt ein komplexeres „Das ist moralisch verwerflich". Das wiederum setzt Normen voraus, die von allen gleichermaßen akzeptiert werden.

Auch Schuldgefühle beeinflussen unsere „moralische Motivation". Sie schreiben, dass wir uns nicht gleich schlecht fühlen, wenn wir ein Versprechen gegenüber einem Freund nicht einhalten, wie wenn wir über eine rote Ampel gehen. Warum?

Weil wir zwischen konventionellen und moralischen Normen unterscheiden müssen. Konventionelle sind etwa „In Spanien herrscht Rechtsverkehr" oder „Man geht nicht bei Rot über die Straße". Moralische sind: „Man muss seine Freunde mögen" oder „darf ihnen gegenüber keine Versprechen brechen". Das haben wir im Lauf der Zeit gelernt. Sie werden nicht von einer Autorität festgelegt. Wenn wir eine moralische Norm brechen, fühlen wir uns daher viel schlechter - auch weil es nicht um die Norm geht, sondern unsere Freunde und wir durch die Beziehung zu ihnen befangen sind.

Inwiefern motivieren uns Schuldgefühle dazu, moralisch zu handeln?

Die Funktion der Schuld ist, dass wir uns bewusst werden, dass wir etwas falsch gemacht haben und uns dann entweder entschuldigen oder es doch noch geradebiegen. Es immer wichtig, evolutionsgeschichtlich gesehen, dass sich ab und an jemand schuldig fühlt, sonst hätte die Gruppe nicht funktioniert. Ich gebe meinen Schülern immer folgendes Beispiel: Stellt euch eine Klasse vor, in der plötzlich einige nicht mehr ihre Notizen teilen. Dann würden wir alle nur noch unser eigenes Ding machen. Wenn sich aber einige schuldig fühlen und um Verzeihung bitten, kann ich als Individuum weiterhin akzeptieren, Teil dieser der Gruppe zu sein.

Warum sind manche Personen von Grund auf mehr, andere weniger egoistisch?

Weil sie es vielleicht nicht gelernt haben oder sich in einer anderen Entwicklungsphase befinden. Kinder haben eine ganz andere moralische Motivation als Erwachsene. Auch die Genetik spielt eine Rolle, und was wir bisher erlebt haben. Außerdem natürlich Krankheiten wie Psychopathie. Psychopathen fühlen sich quasi nie schuldig und verstehen nicht, warum sie sich besser entschuldigen sollten.

Was haben Sie in Ihrer Doktorarbeit für Ihr Leben und den Umgang mit Freunden und Mitmenschen gelernt?

Es war andersherum: Das Thema ist entstanden, weil mir im Umgang mit ihnen bewusst geworden bin, dass sie etwas speziell meinetwegen machen und nicht aufgrund irgendwelcher Normen, sich also nicht so verhalten, wie viele Philosophen sagen. Wohl jeder würde sich schlecht fühlen, wenn er von einem Freund, der ihm ein Geschenk überreicht, den Satz hört: „Ich schenke dir das, weil man das unter Freunden eben so macht."

Wie haben Ihre Freunde denn auf die Ergebnisse der Arbeit reagiert?

Vor allem eine Rückfrage einer Freundin hat mich in den Gesprächen besonders zum Nachdenken gebracht: Was passiert, wenn man etwas Illegales tun muss, um einem Freund zu helfen? Stellen wir uns mal das sogenannte Heinz-Dilemma vor: Die Ehefrau von Heinz ist schwer krank und kann nur durch ein sehr ­teures Medikament geheilt werden. Er geht zur Apotheke und erklärt dem Pharmazeuten die Situation. Der Apotheker kann ihm keinen ­Rabatt geben. Soll Heinz resignieren oder das Medikament klauen? Viele Leute sagen, Letzteres. Es zeigt uns: Nicht alles, was illegal ist, ist auch unmoralisch, auch wenn so eine Norm gebrochen werden muss.

Kontakt: carme.isern@uib.cat