Wer in den vergangenen Tagen die Mallorca-Berichterstattung in Deutschland verfolgt hat, dürfte kaum um den Eindruck herumgekommen sein, dass die Insel einzig und allein aus dem Ballermann besteht und dass ihr Wohlergehen von diesem kleinen Strandabschnitt abhängt. Dieser Eindruck täuscht, wie wir alle wissen. Dennoch scheint dieser Lieblingsort der Urlaubs-Alkoholiker so tief im kollektiven Bewusstsein Deutschlands verankert zu sein, dass man glauben könnte, das zeitweise Ende der Partys zwischen den Balnearios 5 und 8 bedeute das Ende des Tourismus. Es ist nur eine Minderheit, die aus diesem Grund auf die Insel kommt: Laut einer Umfrage von 2019 geben zwölf Prozent der deutschen Mallorca-Urlauber „Party" als Hauptmotiv für ihre Reise an. Doch diese Minderheit artikuliert sich so laut und stürmisch in den sozialen Medien, wie sonst nur vor der Bierkönig-Bühne bei den Auftritten von Mia Julia. „R.I.P. Playa de Palma" wird da gepostet, „Tschüss, Ballermann" oder „Der Kult darf nicht sterben!" Doch welcher Kult ist da eigentlich gemeint?

Die Anfänge

Der Journalist Ingo Wohlfeil beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte der Playa de Palma und der Entstehung des Ballermanns. Er glaubt, dass die Wortschöpfung „Ballermann" und die damit verbundene Karnevalisierung der Playa auf einen Kölner Hobby-Fußballverein zurückzuführen ist. „1972 flog erstmals der FC Merowinger an die Playa de Palma. Weil es einfach billiger war als Urlaub in Westdeutschland. Die Thekentruppe brachte im Handgepäck die Kölsch-Fässer und die Tuppertöpfe voller Gulasch mit, weil sie der spanischen Grundverpflegung zutiefst misstraute. Und da ein Kölner auch in fremden Ländern stets zeigen muss, das er ein Kölner ist, kamen auch die Karnevalskostüme am Strand zum Einsatz."

Treffpunkt der Truppe wird über die Jahre nach und nach der Balneario 6 am Strand, ein Badehäuschen, ursprünglich eine Umkleidekabine, wo auch für wenige Peseten Bier ausgeschenkt wird. Da der Merowinger sich gern einen „ballert" und danach Schwierigkeiten hat, das Wort „Balneario" auszusprechen, wird daraus Ballermann. „Irgendwann gegen Ende der 70er-Jahre muss das gewesen hat", sagt Wohlfeil, „leider können sich die Beteiligten nicht mehr genau erinnern."

In den 80er-Jahren beschränkt sich die Party vorerst auf den Ballermann 6 und das klassische Nachtleben. Der Sänger Mickie Brühl („Buenos días, Matthias") erlebte 1986 zum ersten Mal das Treiben. „Tagsüber traf man sich am Ballermann 6 auf zehn bis zwölf Bier, dann torkelte man durch die Schinkenstraße heim, machte sich schick, um ab 22 Uhr in den Diskotheken weiterzufeiern. Das war aber längst keine Massenbewegung."

Erst spricht es sich an Rhein und Ruhr herum, dass man in Spanien bereits tagsüber ungezwungen einen Heben kann. Und so feiern an der Playa hauptsächlich die Karnevalsvereine, Kegel- und Fußballclubs von Bonn bis Unna. Das ändert sich 1997, als der Film „Ballermann 6" mit dem Schauspieler Tom Gerhardt in die Kinos kommt. Inhalt der Quatsch-Komödie: Zwei Kölner Proleten feiern exzessiv am Strand und saufen aus Eimern. Von da an zieht es auch viele andere Deutsche an den Ballermann, und Mallorca hat ein neues Image weg: die Insel, auf der man sich betrinken kann wie ein Blöder und sich auch so benehmen. Wer das einmal erlebt hat, kommt immer wieder - oder wendet sich angeekelt ab. Die Playa wird zum Hauptreiseziel des Partytourismus oder wie Kritiker sagen: des Sauftourismus.

Die Gastronomen unterstützen diese Bewegung, indem sie eine alkoholische Rund-um-die-Uhr-Versorgung einführen. Seit ­Beginn des neuen Jahrtausends wird ganztags ge­feiert. Der im Jahr 2000 auf den Ruinen des ­Hotels Los Angeles erbaute Megapark wird zur Tagesdisco. Freibier ab 10.30 Uhr sorgt dafür, das es schon morgens laut und derbe wird. Auch der Bierkönig führt Freibier ein. Freibier ist für Deutsche ein magisches Wort. Auch der Mallorquiner erfährt von dessen besonderer Bedeutung für den Umsatz: Nach zwei Freibier bleibt der Deutsche gern auf seinem ­Hocker sitzen und trinkt weiter - gegen Cash.

Die Schlager

Eine weitere Besonderheit des Ballermanns ist von Beginn an das deutsche Liedgut. Der Schlager und die Volksmusik, die von den deutschen Radiostationen mit dem Aufkommen der Neuen Deutschen Welle mehr und mehr verschmäht werden, finden hier eine neue Heimat. Deutsch dröhnt es aus den Diskotheken Graf Zeppelin, Carussell, Kuhstall, Klimbim oder Oberbayern. Als Erste kommen die Hitparaden-Stars Bernhard Brink (1974), ­Costa Cordalis (1976) und Jürgen Drews (1978). In den 80ern folgen alle weiteren. Rex Gildo, Bata Ilic, Roberto Blanco, ­Nicole, Karel Gott, Heino. Ganze Tanzorchester verbringen die Saison an der Playa de Palma.

Doch auch die Musik ändert sich, so wie sich auch das Publikum ändert, das im Laufe der Zeit immer jünger und draufgängerischer wird. Ingo Wohlfeil beschreibt 2017 in einen Essay die Veränderung an der Playa de Palma: „Von den Schlagern des Roy Black in den 80ern über die frivolen Zoten eines Mickie Krause führte der Weg Richtung Proll-Pop. ,Wo sind eure Mittelfinger!', brüllt ein Sänger von der Bierkönig-Bühne, ,wo sind die Alkoholiker?' Das Publikum johlt. Hier ist alles erlaubt, lautet die Botschaft. Männerhorden torkeln über den Ballermann und singen: „Auswärts sind wir asozial!" Dabei tragen sie T-Shirts auf ­denen steht „Timo Werner ist ein Hurensohn."

Die Wirte

Diejenigen, die in den 80er- und 90er-Jahren das Geschäft mit den so trinkfreudigen Deutschen groß aufziehen, sind die Brüder ­Pérez (Zorbas und Joy Palace), Bartolomé ­Cursach (Riu Palace, seit 2000 Megapark) und die Brüder Miguel und Antonio Pascual (Oberbayern, seit 2003 Bierkönig). Sie sind sich alle in tiefster Abneigung verbunden. Um den jeweils anderen auszustechen, werden alle Mittel in die Hand genommen, um den Gästen die größten Stars aus Deutschland zu präsentieren. Die Konkurrenten überziehen sich zudem mit Anzeigen oder lassen am Strand eine Armada an Promotern auf die Touristen los.

Zeitgleich unterbieten sie sich mit Kampfpreisen. Lediglich ein Mindestverzehr wird aufgerufen, und nicht selten gehen die Gäste nach einer Disconacht mit lauter zusätzlichen Give-aways nach Hause. Es ist ein Kampf bis aufs Messer, der da am Ballermann geführt wird, und die Urlauber bekommen wenig oder gar nichts ­davon mit. Die Gewinner heißen am Ende ­Cursach und Pascual. Beide Pérez-Brüder ­sterben eines unnatürlichen Todes (Auto­unfall in Kuba und offenbar eine Drogen-Überdosis), ebenso der deutsche Emporkömmling ­Manfred Meisel, Begründer des Bierkönigs, der 1997 in seinem Haus hingerichtet wird.

Danach ist die Playa zwischen den beiden Großen aufgeteilt. 20 Jahre wird dieses Duopol Bestand haben, bis sich die spanische Justiz entschließt, gegen beide Gruppen vorzugehen. Sowohl Bartolomé Cursach als auch Miguel Pascual kommen vorübergehend in Untersuchungshaft. Ihnen wegen der Bildung mafioser Netzwerke den Prozess zu machen, gestaltet sich dann aber zunehmend schwieriger. Miguel Pascual ist zumindest in einem Fall freigesprochen worden, die Ermittlungen gegen Bartolomé Cursach kosten Staatsanwalt und Untersuchungsrichter den Job, da es dem teuflisch-geschickten „Patron der Nacht" gelingt, den Spieß umzudrehen und sie des Amtsmissbrauchs zu beschuldigen.

Die Läden der Pascuals und Cursachs sind jetzt zur Corona-Zeit geschlossen. Vorgeblich, weil Großevents zu gefährlich seien. Doch es dürfte der Politik gelegen kommen. Seit 2017 gehen die Behörden massiv gegen die Großgastronomen und den Sauftourismus vor. Corona könnte zum Wendepunkt werden. Statt dem Ballermann mit immer neuen Sonder-Dekreten das Saufen auszutreiben, könnte die neue Strategie lauten: Wir lassen ihn ausbluten.

Das neue Jahrtausend

Noch einmal Rückblick: Die Terrorangriffe auf das World Trade Center in New York 2001 und die Finanzkrise ab 2007 sorgen auch für einen Einbruch des touristischen Geschäfts auf ­Mallorca. Erst in den Zehnerjahren findet der Ballermann langsam zu alter Stärke zurück. Geschuldet ist dies hauptsächlich den Krisen der Mitbewerber: der böse Ausgang des ara­bischen Frühling in Ägypten und Tunesien und das Erstarken der Terrorgruppe ISIS, der kurdisch-türkische Bürgerkrieg, die Euro-­Krise, die Griechenland besonders hart trifft. Und so wird es ab 2013 immer voller auf ­Mallorca. Der Höhepunkt ist im Jahr 2018 erreicht. Fast 14 Millionen Touristen verbringen ihren Urlaub auf der Insel.

Das erwirtschaftete Geld wird mit politischer Rückendeckung in Hotel-Renovierungen oder Neubauten investiert. Vier- und Fünf-Sterne-Häuser lösen die heruntergekommenen Herbergen ab. In erster Meereslinie entstehen Cocktailbars und geschmackvolle Restaurants, die sich vom allgemeinen Bild ­einer schmuddeligen Playa zwischen billigen Supermärkten und Wurstbuden abheben. Der altehrwürdige Ballermann 6 wird aufgehübscht und in Beach Club Six umbenannt. Dort kostet das San-Miguel-Bier vom Fass nun 3,40 Euro. Der bisherige „Geiz ist geil"-Tourist reagiert entsetzt, sein Lebensraum wird enger. Zumal auch die altbekannten Rückzugsorte der Trinker, Megapark und Bierkönig, an der Preisschraube drehen. Plötzlich ist die Maß Bier teurer als auf dem Oktoberfest. Das Programm der beiden großen Party-Tempel wird dabei immer praller. Im Megapark drücken sich Mickie Krause, Michael Wendler, Costa Cordalis und Jürgen Drews die Klinke in die Hand, im Bierkönig sind es Peter Wackel und die Ex-Pornodarstellerin Mia Julia.

Die Playa wird langsam zu einem Luxusort, doch davon lassen sich die Fußballmann­schaften auf der Saisonabschlussfahrt nicht abschrecken. Die Anziehungskraft des Ballermanns will nicht nachlassen, trotz all der Maßnahmen die die Regierung ergreift, um dem Sauftourismus Einhalt zu gebieten.

Die Bierpyramide

Die Behörden hatten seit Jahrzehnten konsequent weggeschaut. Zwar gab es bereits Mitte der 90er-Jahre ein Eimersaufen-Verbot, doch allzu drastisch fielen die Restriktionen nicht aus, um den Suff am Strand zu stoppen. Das ­Leben an der Partymeile war zwar wild, aber weitgehend friedlich. „Wir hatten im Riu Palace in den Neunzigern keinerlei Security", erinnert sich der frühere Direktor der Großraum-Kellerdisco Radja Dalimontee. „Das war nicht nötig, wir hatten zwei Kellner die nebenbei aufpassten. Es gab keine Schlägereien."

Vielleicht ist das aber auch eine friedliche Verklärung der Zustände. Fest steht: Mit dem Aufkommen des Fotohandys werden die Zwischenfälle dokumentiert und finden den Weg in die Presse. Auch das Verhalten der handelnden Akteure verändert sich zum Teil dramatisch. Als zwei Ballermann-Entertainer aus der Kategorie besonders schlechtes Benehmen im April 2016 mit 4.000 Bierbüchsen eine Bier­pyramide am Strand bauen wollen, kommt es zu einem Moment, der als die Bierschlacht vom Ballermann in die Annalen eingeht. Statt eine Pyramide zu bauen, bespritzen sich mehrere Hundert Party-Urlauber am Balneario 6 mit Bier, schleudern die Büchsen durch die Luft und betrinken sich, während Policía Local und Anwohner perplex danebenstehen.

Dem Gastronomen Juan Ferrer, der einige Läden zwischen Can Pastilla und Arenal besitzt, reicht es. „Acht Wochen Ballermann sind okay, aber acht Monate sind nicht okay. Was würde München zu acht Monaten Oktoberfest sagen?", fragt er damals wütend im einem Interview. Mit seinem Bruder Mika und dem ­Hotelier Pedro Marín gründet er die Initiative „Palma Beach" und fordert lautstark eine Qualitätsoffensive für die Playa de Palma. Schon bald schließen sich Dutzende Unternehmer an, unter anderen die mächtige Hotelkette Riu. Auch die Politik ist begeistert von den ­Plänen einer neuen Playa de Palma.

Als auch die Anfänge der Saison 2017 geprägt sind von Ausschreitungen, ist das Maß voll. Auf Druck der Regierung schafft der Bierkönig das Freibier ab, besonders derbe Sänger dürfen nicht mehr auftreten. In der Schinkenstraße wacht nun ein Großaufgebot an Wachleuten über einen Bierkönig, der 2018 gezwungen wird, Einlasskontrollen durchzuführen. Im gleichen Jahr wird der Megapark behördlich halbiert. Der nach wie vor im Raum stehende Vorwurf: illegale Baumaßnahmen. 2019 schließlich wird per Dekret ein Trink- und Essverbot in der Schinkenstraße ­erlassen. So bessern sich die Zustände, aber reicht das der Linksregierung?

Das Virus und die Folgen

„Die Urlauber wollten grundsätzlich drei ­Dinge: deutsches Bier, deutsches Essen und deutschen Schlager - also lernten die einst so verarmten Mallorquiner, wie man Schnitzel zubereitet", schreibt der Ballermann Sänger Lorenz Büffel („Johny Däpp") in einem offenen Brief an die Balearen-Regierung, den er auf ­seiner Facebook-Seite veröffentlicht. Kurz zuvor, Ende Juni 2020, hatte Büffels Arbeitgeber, der Megapark, bekannt gegeben, dass er in diesem Jahr nicht mehr öffnen wird. Zu restriktiv seien die Sicherheitsauflagen.

Der offene Brief, der lediglich auf Deutsch verfasst ist, greift nicht nur auf ein antiquiertes Urlaubsbild zurück (deutsches Bier, Essen, Schlager), er zeugt von einem anmaßenden Chauvinismus, den die Gäste am Ballermann immer wieder an den Tag legen: Ohne uns wärt ihr immer noch arme Bauern! Wie beeindruckt die Behörden von diesen Worten sind, falls sie sie gelesen haben, erfahren die Ballermänner zwei Wochen später. Nachdem sich in einer Nacht die Touristen in der bisher recht unschuldigen Bierstraße in Ermangelung anderer Trink-Möglichkeiten ballen, werden per behördlicher Anordnung alle Läden in der Bierstraße geschlossen, das Bamboleo und der Bierkönig in der Schinken­straße dürfen gar nicht erst öffnen. Damit ist die Saison am Ballermann erledigt. Erst Mitte September, zum Ende der Saison, darf wieder aufgesperrt werden, wenn sich das dann ­überhaupt noch lohnt.

Das Ende des Ballermanns?

An der Playa de Palma machen nicht nur Deutsche Urlaub. Viele Nationalitäten kommen hier zusammen. Skandinavier, Holländer, Slowenen oder Franzosen können mit dem ­Begriff Ballermann nicht viel anfangen, sie verbinden nichts mit den Ritualen der trunkenen Teutonen, nichts mit ihrer Musik. Und das könnte die Chance der Ballermann-Verächter sein: Die Übermacht der Deutschen an der Playa muss dauerhaft gebrochen werden, um einen Gezeitenwechsel einzuläuten. Aber ist das wirklich sinnvoll? War die Entwicklung bis zum Jahr 2019 nicht eigentlich eine gute? Die Eindämmung des Suffs?

Für ein wirklich friedliches Beisammensein der Völker an den fünf Kilometern Strand, da sind sich fast alle Beteiligten einig, muss sich das Niveau ändern. Und - im Interesse ­ihrer eigenen Existenz - wären besonders Megapark und Bierkönig aufgerufen, sich für das Jahr 2021 moderne Konzepte einfallen zu lassen. Es braucht keine halbtalentierten ­Suffsänger mehr, deren musikalische Kompetenz kaum über ein „Zicke Zacke" hinausgeht. Es braucht keine Zwanzig-Liter-Säulen voller Wodka Lemon, um Spaß zu haben. Die Betreiber der großen Clubs haben jetzt ein Dreivierteljahr Zeit, an Konzepten zu arbeiten, die zwei Dinge zwingend bezwecken müssen: eine Besänftigung der Behörden und damit verbunden ein Unterhaltungsprogramm, das nicht in Eskalation endet. Es wird ein schwieriger Spagat werden.