Vor der Corona-Pandemie hat Antònia ihren Sohn Miguel (Namen von der Redaktion geändert) kaum zu Gesicht bekommen. Schule, Mittagessen, und schon verabschiedete sich der Sprössling wieder. „Mit Freunden abhängen", das sei seine Hauptbeschäftigung ge­wesen, berichtet die Mutter. Dann kam der Lockdown im Frühjahr und plötzlich war auf Mallorca alles anders. „Nicht, dass er nicht vorher schon ständig am Smartphone gehangen hätte, aber jetzt kann man es ihm nicht einmal übel nehmen", so die Mallorquinerin. Sie sieht mit ­Sorgen, wie die Corona-Auflagen dem mittlerweile 17-Jährigen auch jetzt noch zu schaffen machen. Freunde treffen, abends ausgehen, Geburtstags- und Silvesterpartys - alles tabu. „Er redet kaum darüber, zieht sich immer mehr zurück, aber ich merke, wie er leidet", sagt Antònia.

Miguel ist kein Einzelfall. Auch eine andere Mutter berichtet, wie ihr pubertierender Sohn - sonst immer ganz cool und smart -während der Ausgangssperre eines Tages wie ein kleines Kind zu weinen begann. „Und momentan disku­tieren wir fast täglich darüber, dass er abends um 22 Uhr zu Hause sein muss, dabei habe ich die Regeln ja nicht erfunden", sagt sie.

Oriol Lafau kennt die Problematik. Als Psychiater, aber auch als Koordinator für psychische Gesundheit in der balearischen Landesregierung beobachtet er die Auswirkungen der Pandemie aus mehreren Blickwinkeln. „Für Jugendliche zwischen 15 und 20 Jahren ist es besonders schwer. Für sie ist es das Wichtigste, sich zu sozialisieren, mit Gleichaltrigen zusammen zu sein. Das ist biologisch begründet und ganz natürlich", sagt er. Das erste Mal verliebt, das erste Mal körperlicher Kontakt zum anderen Geschlecht, die ersten Partys und Alkoholerfahrungen - all das fallt meist in diesen Lebensabschnitt.

Stichwort Realitätsflucht

„Ich denke aber nicht, dass die Jugendlichen langfristig Schaden daran nehmen, dass sie derzeit einiges verpassen, auch wenn es ihnen selbst schrecklich vorkommen mag", so Lafau. Sorgen macht ihm eher die teils exzessive Zuwendung zur virtuellen Welt, auf die viele Jugendliche gezwungenermaßen ausweichen. „Da können sich Süchte entwickeln, die auch langfristig Konsequenzen haben können." Zwar sei es positiv zu bewerten, Kontakte derzeit über das Smartphone zu pflegen - „da sind die Jugendlichen oft anpassungsfähiger und älteren Generationen etwas voraus" -, gleichzeitig bestehe aber die Gefahr, zu sehr in virtuellen Netzen und Spielen aufzugehen, Stichwort Realitätsflucht.

Das bestätigt auch Javier Torres, Dekan an der balearischen Psychologenkammer. „Studien zeigen, dass der Pornokonsum von Jugendlichen seit Beginn der Pandemie gestiegen ist", sagt er.

Pauschale Tipps, wie Eltern damit umgehen sollten, wenn ihre jugendlichen Kinder nur noch vor dem Bildschirm hängen, will er nicht geben. Grundsätzlich sei offene Kommunikation mit dem Nachwuchs natürlich essenziell. „Allerdings kann man das auch nicht von heute auf morgen erzwingen, wenn vorher jahrelang wenig Austausch stattgefunden hat. Eltern sollten die Verhaltensweisen des Jugendlichen beobachten und im Zweifelsfall professionelle Hilfe suchen."

Das größte Risiko sieht Oriol Lafau in der durch Auflagen und Social Distancing ge­prägten aktuellen Situation im familiären Umfeld. „Wenn in der Familie Traurigkeit und Sorgen vorherrschen, sei es aus Zukunftsängsten oder weil die Eltern ihren Job verloren ­haben, dann saugen Kinder, aber auch Jugendliche, diese negative Energie auf, und das kann ihnen auf Dauer schaden."

Dabei habe die harte Ausgangssperre im Frühjahr seiner Erfahrung nach vielen Familien sogar zunächst gutgetan. „Ich habe mit vielen Jugendlichen zu tun gehabt, die erzählten, dass es zwar die ersten ein, zwei Wochen schwierig war, so viel Zeit mit den Eltern zu verbringen, dass sie sich dann aber sogar näher gekommen sind, als es unter normalen Umständen der Fall war. So ein bisschen wie Flitterwochen mit den Eltern." Der Vorteil im Frühjahr sei zudem gewesen, dass klar war, dass der Zustand zeitlich begrenzt ist. „Und ­Jugendliche brauchen Grenzen und Fristen, noch viel mehr als wir Erwachsenen." Absehen zu können, wie lange etwas anhält - sei es eine harte Lernphase in der Schule oder eben die Einschränkung der Verhaltensweisen durch die Pandemie -, helfe gerade in diesem Alter.

Um 22 Uhr wieder zu Hause

Viele Menschen, vor allem aber Jugendliche, litten jetzt, während der dritten Pandemie-Welle, in der keiner so recht weiß, was wann und wie lange verboten sein wird, deutlich mehr. „Diese Unsicherheit führt dazu, dass sich viele abgrenzen vom aktuellen Geschehen", so Javier Torres. Auch die auf die Abendstunden und die Nacht begrenzte Ausgangssperre mache es nicht leichter. „Man gibt ihnen das Bonbon der Freiheit, nimmt es ihnen um 22 Uhr aber wieder weg", so Oriol Lafau. Gerade für die Eltern der von Natur aus ohnehin zur Rebel­lion neigenden Jugendlichen keine leichte ­Situation. „Wichtig ist, sich vor den Jugend­lichen auf die Seite der politisch Verantwort­lichen zu schlagen und zu sagen: ,Ich halte es für richtig, dass du momentan um 22 Uhr zu Hause bist und keine Freunde mitbringst.'" Nur so könne man selbst die Autorität behalten und größere Diskussionen eindämmen.

Das glaubt auch Javier Torres. „Jugendliche sind alt genug, zu verstehen, warum die Regeln wichtig sind und dass es um Solidarität geht. Aber die Eltern müssen ein Vorbild sein. Wenn sie selbst die Regeln nicht ernst nehmen, werden es ihre Kinder vermutlich auch nicht tun." Zudem sollten Eltern sehr viel Geduld und Empathie aufbringen und sich in die Jugendlichen hineinversetzen.

Wir sind nicht schuld

Das gelte auch für die Gesellschaft. „Es war nicht gut, dass die Öffentlichkeit während der zweiten Pandemie-Welle im Sommer die Jugendlichen oft als Sündenböcke für die wieder ansteigenden Infektionszahlen dargestellt hat", findet Lafau. Viele hätten sich trotz der für sie ungleich schwereren Bedingungen sehr gut verhalten, denkt auch Torres. „Und was die Rückkehr in den Schulbetrieb angeht, können wir von den Kindern und Jugendlichen sogar noch etwas lernen, da hat es kaum Ansteckungen gegeben." Die Beschuldigungen hätten bei vielen Jugendlichen Frust hervorgerufen und sie dazu gebracht, sich von der Gesellschaft ein Stück weit abzukapseln, meint Lafau.

Grundsätzlich, so Torres, tue es uns allen, aber insbesondere den Jugendlichen gut, sich momentan nicht auf langfristige Ziele einzuschießen, die dann vielleicht wegen der Pandemie entfallen. „Stattdessen sollten wir von Tag zu Tag leben und nicht alles zu negativ sehen. Irgendwann ist die Pandemie ja vorbei." Hilfreich sei die Frage: „Was kann ich jetzt unter den gegebenen Bedingungen tun?" Und nicht: „Was würde ich ohne Corona nun tun?"

Mutter Antònia ist intuitiv zu einer ähn­lichen Ansicht gekommen. „Manchmal setze ich mich in letzter Zeit neben Miguel, wenn er am Computer sitzt, schaue ihm beim Spielen zu und versuche, zumindest in diesem Bereich mit ihm ein Gespräch anzufangen." Das klappe ganz gut. „Ich hoffe, dass er weiß, dass ich für ihn da bin und dass ihm das etwas hilft. Auch wenn er das offen nie zugeben würde."