Gerlinde Weininger steht vor ihrem Restaurant an der Playa de Palma und hält eine gelbe Schwimmnudel aus Schaumstoff in der Hand. Ihre schwarze Maske umschließt eng Mund und Nase. Seit Monaten hat man sie nicht mehr ohne Atemmaske gesehen. Und seit Monaten kann man sie auch kaum noch verstehen, weil die Enge ihrer Maske kaum Atemspielraum lässt. Aber deshalb hat sie ja die gelbe Schwimmnudel. Immer wenn Menschen vor ihrem Münchner Kindl Höhe Balneario 7 stehen bleiben, springt sie dazwischen und misst mit der Nudel den Abstand zu anderen Schaulustigen.

In ihrem Kindl steigt an diesem Freitag (4.6.) der erste Gesangsauftritt seit dem vergangenen Jahr. Weininger ist nervös. Nervös, dass etwas schiefgehen könnte, dass Menschen tanzen, ein Massenauflauf entsteht und die Polizei ihr deshalb eine saftige Strafe verpasst und vielleicht das Restaurant schließt. Aber es läuft gut. Die rüstige Chefin hat den Laden unter Kontrolle. Als der Sänger Alex Engel mit einem Schlager-Medley für gute Stimmung sorgt, bleiben alle Gäste diszipliniert sitzen. Vor dem Restaurant stehen zwei Dutzend Urlauber mit Abstand. Sie tragen Maske und wackeln höchstens mit den Hüften. Dann tauchen plötzlich fünf Motorräder der Policía Local vor dem Lokal auf. Gebannte Spannung. Was passiert jetzt? Die Ortspolizisten nehmen ihre Helme ab und bestellen Currywurst mit Pommes in der Wurstbude von Melanie Müller nebenan. Aufatmen im Kindl.

Doch für die Beamten ist es Kräftetanken für eine ungewisse Nacht. Am Vorabend waren sie von dem Massenauflauf am Strand nach Aufhebung der Ausgangssperre vollkommen überrascht worden. Hunderte meist junge Menschen strömten zur Sperrstunde an den Balneario 6 und feierten einfach weiter. Als die Polizei endlich genug Einsatzkräfte zusammengezogen hatte, war die Situation bereits gänzlich außer Kontrolle.

So bleibt es das ganze Wochenende über. Am Freitagabend versuchen 20 Beamte der Ortspolizei die mittlerweile über tausend weitgehend deutschsprachige Party-Urlauber zu zerstreuen, aber das hilflose Gehabe der Beamten verursacht eher amüsierte Neugierde. Kaum ist ein Strandabschnitt geräumt, ist er wieder voll mit Menschen. Am Samstag hat sich augenscheinlich auf der ganzen Insel herumgesprochen, dass der Ballermann mal wieder rechtsfreier Raum ist. Und so kommen auch die Spanier in Massen. Sie parken die Seitenstraße zu, trinken erst einmal am Auto und ziehen mit Kühlboxen und Supermarkt-Alkohol an den Strand. Da hilft auch keine Unterstützung der Policía Nacional. Insgesamt 50 Beamte haben gegen die Promenadentrinker-Internationale keine Chance. Zum Vergleich: In Hamburg setzte die Polizei am Wochenende Wasserwerfer und Räumpanzer gegen 400 Menschen ein. Doch in Hamburg ist man für diese Situation gerüstet. Mallorca wurde davon überrollt. Obwohl es vorauszusehen war.

Startschuss im Heiligen Gral

Der Bierkönig ist für den geselligen Trinker so etwas wie der Heilige Gral. Aber auch die Pilgerstätte der guten Laune blieb während der harten Phase der Corona-Pandemie dicht, wie so vieles andere auch. Dann, am 18. Mai, versetzte die Ankündigung der Wiedereröffnung am 20. Mai Party-Deutschland nahezu in Extase. Der Startschuss für die neue Saison an der Playa de Palma war gefallen. In Windeseile wurden die letzten Schönheitsoperationen in den Hotels, Bars und Restaurants vorgenommen. Mittlerweile sind fast alle gastronomischen Betriebe geöffnet. Bei den Hotels sind es über 50 Prozent, bis Anfang Juli sollen es nahezu alle sein.

Die Schattenseite der Bierkönig-Öffnung: Nach dem gesitteten, von Security-Leuten überwachten Aufenthalt im Inneren der Kneipe, wird wieder mehr getorkelt, gepöbelt, geprügelt, gekotzt auf der Schinkenstraße. Und nicht nur dort. „Bis vier Uhr morgens haben die vor meinem Balkon gefeiert", stöhnt eine Anwohnerin, die direkt am Meer wohnt. „Es ist schlimmer als noch vor zwei Jahren."

Am Montag tritt Bürgermeister José Hila vor die Presse und gibt sich erschüttert. Kein Wunder, denn all das, was seit Jahren auch von seiner Partei bekämpft wird, ist wieder da. Auf einen Schlag. Seitdem der Oberste Gerichtshof Spaniens Teile der Corona-Verordnung kippte und die Versammlungsobergrenze für private Treffen sowie die Ausgangssperre aufhob, ist es vorbei mit dem Dornröschenschlaf auf der Insel. Anarchistisches Treiben an der Playa de Palma mit all seinen Auswüchsen inklusive Straßenprostitution, illegalen Getränke- und Sonnenbrillenhändlern. Die Taschendiebe sind zurück, genauso wie die Massagefrauen. Und auch die einheimische Jugend lässt sich nicht mehr das Feiern im Freien verbieten.

Der Bürgermeister hat viele alte Probleme vor sich, von denen er wohl hoffte, dass sie mit Corona verschwänden. Jetzt steht er da und kündigt drastische Maßnahmen gegen die Saufgelage an. Mit bis zu 3.000 Euro Strafe sollen solche Zusammenkünfte belegt werden, so steht es in einem Maßnahmenkatalog der Stadtverwaltung. Doch hat er viel zu wenig Beamte, um konsequent gegen den Krawall vorzugehen. Und so wird seine Ankündigung folgenlos bleiben. Wenige Stunden nach dem Auftritt des Bürgermeisters füllt sich die Promenade erneut mit Hunderten von Menschen, die dort weitermachen, wo sie in den Bars, Kneipen und Hotelzimmern aufgehört haben.

Aufgebrachten Anwohnern reicht das nicht. Die Polizei solle endlich ein Exempel statuieren, die Pöbler niederprügeln und dann in den nächsten Flieger setzen, inklusive zehn Jahre Inselverbot, fordert ein privater Autovermieter. Vielleicht träumt der Bürgermeister sogar von derlei rechtlichen Instrumenten. Indes, es gibt sie nicht.

Mal eben in den Flieger

Um nach Mallorca zu reisen, brauchte es bis vor wenigen Tagen einen PCR-Test. Diese kostenintensive Untersuchung verhinderte nicht nur, dass Ungetestete auf die Insel kommen, er verhinderte auch das spontane Fliegen. Das Ergebnis des Testes ließ bis zu zwei Tage auf sich warten. Jetzt reicht ein einfacher, kostenloser Bürgertest, um auf die Insel zu kommen. Dadurch wird das Reisen wieder günstiger und flexibler. Morgens gebucht, nachmittags in den Flieger. Dass viele Menschen dieses Angebot schon am kommenden Wochenende annehmen, steht außer Frage.

Die Fußball-EM beginnt am Freitag, und Public Viewing ist schon seit 1990 ein Ereignis an der Playa. Grundsätzlich gilt: Je weiter Deutschland im Turnier kommt, desto voller wird es am Ballermann. Die Gastronomen blicken gespannt auf die nächsten Tage. Gerlinde Weininger wird wieder zu ihrer gelben Schwimmnudel greifen und die Abstände messen. Ein paar Meter weiter am Strand jedoch kann man eng an eng maskenlos feiern, tanzen und trinken, als hätte es Corona nie gegeben.

Der Ballermann steht für die Freiheit, Dinge zu tun, die man sich anderswo nicht trauen würde. Dafür wird er gehasst und geliebt. Totgesagt wurde er auch schon mehrfach. Dass er auch Corona überleben wird, wurde am vergangenen Wochenende bewiesen. Und es sieht so aus, als gäbe es keine Macht auf dieser Welt, die das ändern könnte.