Was sehen Sie als die großen Herausforderungen für die nächsten vier Jahre?

Zunächst einmal brauchen wir eine detaillierte Analyse der Stärken und Schwächen unseres Systems, um zu wissen, wie wir uns für die Zukunft aufstellen müssen - und wie wir die Gesundheitsversorgung nachhaltig machen können.

Sie haben schon in der vergangenen Legislaturperiode im Gesundheitsministerium gearbeitet und so Einblicke ins System gewonnen. Wo sehen Sie dessen Stärken?

Eine der Stärken ist sicherlich die lange Lebenserwartung, die wir auf den Balearen haben (Frauen 85 Jahre, Männer 80 Jahre, Anm. d. Red.). Und auch die hervorragend ausgebildeten Fachkräfte sind eine Stärke.

Und wo liegen die Schwächen?

Zu den Schwächen gehört der noch mangelhafte Datenaustausch zwischen verschiedenen Instanzen des Gesundheitssystems - etwa was Untersuchungsergebnisse und Kranken­geschichten der Versicherten betrifft. Außerdem müssen wir die medizinische Versorgung stärker auf die Behandlung chronischer Krankheiten ausrichten. Bisher ging es vor allem um die Behandlung akuter Krankheiten. Doch da die Menschen immer älter werden, haben sie immer mehr Krankheiten gleichzeitig, mit denen sie leben müssen. Wenn ein Patient Diabetes, Bluthochdruck, eine chronische Erkrankung der Atemwege und beginnende Demenz hat, dann müssen wir weg von der Hyperspezialisierung und hin zu einem ganzheitlicheren Ansatz. Da geht es nicht mehr so sehr darum, ob der Cholesterinwert nun bei 240 oder 230 liegt, sondern um die Verbesserung der Lebensqualität insgesamt.

Sollte man angesichts der zunehmenden Lebensdauer nicht auch vermehrt auf Vorsorge setzen?

Unsere ganzes Denken muss sich viel mehr auf public health ausrichten, auf die Öffentliche Gesundheitspflege. Das Gesundheitssystem macht gerade einmal zehn Prozent des Gesamtkonzepts Gesundheit aus. Lebensstil, Ernährung, Sport, soziales Umfeld, Wohnverhältnisse, Bildung und Umwelt haben insgesamt einen viel größeren Einfluss auf die Gesundheit des Einzelnen als die Zahl der Betten in einem Krankenhaus. Sichere Städte, gute Luft, gesunde Lebensmittel sind viel wichtiger, und trotzdem fließt das für Gesundheit zur Verfügung stehende Geld komplett in die Krankenversorgung. Natürlich muss diese qualitativ hochwertig sein, und alle müssen den gleichen Zugang zu guter medizinischer Versorgung haben. Aber die Menschen müssen auch wieder lernen, sich selbst um ihre Gesundheit zu kümmern.

Sie sind für die zehn Prozent zuständig. Wo sehen Sie Änderungsbedarf?

Wir müssen garantieren, dass die Behandlung effizient und sicher ist. Der teils außerordentliche Fortschritt in der Medizin hat dazu geführt, dass die Behandlung selbst den Patienten gefährden kann.

Wie das?

Wenn Sie einem älteren Patienten mit Schlafstörungen eine Schlaftablette geben, dann verbessert sich seine Situation auf den ersten Blick. Aber die Nebenwirkung dieser Tablette verursacht beim Patienten Schwindel, sodass er beim morgendlichen Gang ins Bad hinfällt und sich verletzt - da habe ich als Arzt dann ein Problem geschaffen, statt eines zu lösen. Um solche Fälle zu vermeiden, muss man abwägen und eine Balance zwischen Effizienz und Sicherheit finden - das verstehen wir unter der Exzellenz, die es zu erreichen gilt.

Spanien hat kürzlich die Rezeptfreiheit von hochdosierten Schmerzmitteln wie Ibuprofen und Paracetamol abgeschafft. Nehmen wir alle zu viele Pillen?

Unsere Gesellschaft hat sich im Laufe der Zeit medikamentalisiert. Das liegt sicherlich auch daran, dass heutzutage alles schnell und sofort erfolgen muss. Tabletten entfalten oft in fünf Minuten den Effekt, den man auch mit anderen Methoden erreichen kann - aber die nehmen mehr Zeit in Anspruch. Tabletten sind keine Wundermittel, sie können bestehende biologische Prozesse lediglich bremsen oder beschleunigen.

Sollten die Ärzte also weniger Medikamente verschreiben?

Verstehen Sie mich nicht falsch, Medikamente sind eine der ganz großen Erfindungen der Menschheit. Aber sie nehmen heute einen zu großen Anteil bei der Lösung von gesundheitlichen Problemen ein, die auch ganz anders angegangen werden können. Aber das müssen wir den Menschen erst einmal vermittlen, und dieser Prozess dauert seine Zeit.

Und wird wahrscheinlich auch etwas kosten. Dabei bestehen auf den Balearen ja auch ganz andere finanzielle Notwendigkeiten: Im spanienweiten Vergleich stehen die Inseln auf dem letzten Platz in Sachen medizinischer Grundversorgung.

In den vergangenen vier Jahren wurden ernorme Anstrengungen unternommen, um die Situation zu verbessern, aber es bleibt immer noch viel zu tun.

Befürchten Sie angesichts des Haushaltslochs jetzt neue Kürzungen?

Dazu kann ich nichts sagen, ich bin keine Politikerin. Meine Aufgabe ist es, die Nachhaltigkeit unseres Systems zu garantieren. Dieses tendiert von Natur aus eher zu einem unendlichen Wachstum: Natürlich möchte jeder noch mehr Ärzte, noch mehr Fachkräfte, noch mehr Mittel. Aber man muss eben auch auf die Zweckmäßigkeit schauen, auf das Verhältnis zwischen finanziellem Aufwand und den damit erzielten Ergebnissen.

In Krankenhäusern und Gesundheitszentren werden neben Balearen-Bewohnern jedes Jahr auch viele Urlauber behandelt - wie groß ist diese Zusatzbelastung?

Wir haben kürzlich eine Studie zu diesem Thema gemacht. Natürlich gibt es in den Monaten der Hauptsaison eine Zusatzbelastung, aber die bringt das System nicht ins Straucheln.

Ist die Geschichte von betrunkenen Engländern, die die Notaufnahme blockieren, also eine Mär?

Das ist ein anderes Thema und auch nicht auf die Urlauber beschränkt: Die Menschen gehen insgesamt viel zu oft in die Notaufnahme, und zwar für Probleme, die im Gesundheitszentrum viel schneller und besser zu lösen wären. Von allen Patienten, die auf den Balearen in der Notaufnahme vorstellig werden, werden am Ende gerade einmal elf Prozent ins Krankenhaus eingewiesen. Natürlich gibt es einen weiteren Prozentsatz, den sich die Ärzte ansehen müssen, um einzuschätzen, wie am besten geholfen wird. Aber mehr als die Hälfte der Leute, die vor der Notaufnahme warten, haben da eigentlich nichts zu suchen. Das ist ein Problem für die Fälle, die wirklich dringend Behandlung brauchen.

Das kosten die Urlauber

Wenn ein Urlauber auf den Inseln medizinische Behandlung braucht, verursacht das zwar Kosten - doch dank der europäischen Gesundheitskarte bleiben die balearischen Steuerzahler nicht darauf sitzen. Die EU rechnet nach einem komplizierten Schlüssel aus, wie viel etwa für die medizinische Versorgung von deutschen Urlaubern in Spanien und viceversa ausgegeben wurde und erstattet einen entsprechenden Beitrag an die Zentralregierungen, der im Falle Spaniens dann wiederum anteilig an die Comunidades Autónomas weitergegeben wird. 2018 betrugen die Kosten für die Behandlung von Urlaubern auf den Balearen insgesamt 31,6 Millionen Euro. Davon gingen 33,9 Prozent (10,7 Millionen) auf die Kappe der Briten, 26,1 Prozent auf die der Deutschen (8,3 Mio.).