Noch im Juni waren die Balearen eine der spanischen Regionen mit den geringsten Covid-19-Fallzahlen. Nun stehen Mallorca und die Nachbarinseln im spanienweiten Vergleich schlecht da. Wie konnte es so weit kommen?

Das liegt an der allgemein entspannten Haltung in der Bevölkerung, die die Gefahr nicht ernst genug genommen hat. Die Corona-Maßnahmen der Balearen-Regierung haben diese Einstellung noch gefördert. Dadurch, dass es anfangs so viele Ausnahmen gab, beispielsweise, dass die Maske an den Promenaden nicht getragen werden musste, hat falsche Signale gesendet. Es hätte auch viel detailliertere Protokolle für Familienfeiern geben müssen, genaue Erklärungen, wie man sich im Umgang mit engen Verwandten oder Freunden im ­privaten Umfeld verhalten sollte. Die Leute wussten teilweise gar nicht, ob sie es richtig machen. Auch die Kontinuität der Maßnahmen fehlte. Und dass sich sogar einige politische Autoritäten wie Bürgermeister ohne ­Maske in der Öffentlichkeit zeigten, hat die Disziplin in der Bevölkerung auch nicht gesteigert. Es sind radikalere Maßnahmen nötig.

Radikalere Maßnahmen? Reden Sie von Ausgangssperren?

Wo es Sinn macht, ja. Ausgangssperren, beispielsweise für einzelne Häuserblocks, Stadtviertel oder Gemeinden, können sehr sinnvoll sein, um einzelne Infektionsherde zu stoppen, aber auch um den Leuten den Ernst der Lage vor Augen zu führen. Statt wie die Balearen-Regierung langsam die Auflagen Stück für Stück zu erhöhen und damit die Bevölkerung in gewisser Weise zu verunsichern, wäre es besser, harte Maßnahmen zu ergreifen, bis sich die Situation stabilisiert, und diese dann Stück für Stück wieder runterzufahren.

Einige Menschen auf der Insel finden an­gesichts dessen, dass viele Fälle derzeit asymptomatisch verlaufen, dass die zuletzt verschärften Auflagen - Rauchverbot, eine strengere Maskenpflicht, Abstandsregelungen in Restaurants sowie die Beschränkung privater Zusammenkünfte auf zehn Per­sonen - schon deutlich zu weit gehen. Unternehmer fürchten um ihre Existenz.

Je mehr Infizierte es gibt, desto mehr Menschen werden mittelfristig sterben - das ist das Problem. Da derzeit noch überwiegend junge Leute positiv getestet werden, ist die Sterbe­rate relativ gering. Aber man erkennt schon, dass sie langsam ansteigt, weil junge Leute eben auch auf Alte übertragen. Und je mehr Infizierte es gibt, desto schwieriger ist es, weitere Ansteckungen zu verhindern. Das ist das große Problem. Deshalb müssen wir die Gesamtzahl der Infizierten so gering wie möglich halten - und deshalb sind radikale Maßnahmen so wichtig. Man muss in die öffent­liche Gesundheit investieren, sie ist die Grundlage - auch dafür, dass es der Wirtschaft langfristig wieder gut geht.

Auf Mallorca ist der schlimmstmögliche Fall eingetreten: In einem Seniorenheim in der Gemeinde Sant Joan wurden am Wochenende 75 Infizierte dokumentiert, zwei Bewohner starben, sechs liegen im Krankenhaus. Dabei gilt in diesen Einrichtungen doch eigentlich die größte Vorsicht.

Die Pandemie zeigt uns, dass in den Seniorenheimen grundsätzlich vieles schiefläuft. ­Natürlich hätte dort mehr als irgendwo sonst der Abstand zwischen den Bewohnern und auch dem Personal strengstens eingehalten werden müssen. Aber das scheint nicht geschehen zu sein, anders kann man sich einen so ausufernden Infektionsherd nicht erklären. Es braucht mehr gut ausgebildetes Personal, es braucht einen radikalen und umfassenden Wandel, was die Lebensumstände der Bewohner dort angeht. Wie ist das gemeinsame ­Essen ­organisiert? Wie sieht es in den Ruhe­zonen und anderen Gemeinschaftsbereichen aus? All dies muss unbedingt hinterfragt und neu organisiert werden.

In der vergangenen Woche hat sich die Zahl der dokumentierten Ansteckungen auf den Inseln verdoppelt, auch die Zahl der Patienten auf der Intensivstation ist kontinuierlich gestiegen. Steht das bisher von Ihnen ­gelobte Gesundheitssystem der Balearen nun doch vor einem Kollaps?

Was die Krankenhäuser angeht, stehen die Balearen gut da. Sie sind vorbereitet, noch viel besser als im vergangenen Frühjahr. Auch für Covid-19-Patienten mit schwerem Krankheitsverlauf dürfte es genug Kapazitäten geben. Sorgen mache ich mir allerdings um die medizinische Grundversorgung, beispielsweise in den örtlichen Gesundheitszentren. Dort wurde das Personal - von den Tracern abgesehen - nicht aufgestockt, obwohl dort ohnehin schon Mangel herrschte. Hier könnte es Schwierigkeiten für Patienten mit anderen Krankheiten geben.

Am 10. September soll die Schule wieder losgehen. Aus medizinischer Sicht eine richtige Entscheidung?

Für die Kinder und Jugendlichen ist es sehr wichtig, auch wenn die aktuellen Zahlen dafür derzeit eigentlich vier bis fünf Mal zu hoch sind. Aber ein Schulstart kann theoretisch trotzdem funktionieren, ohne dass die Fallzahlen in die Höhe schießen. Das geht aber nur, wenn die Auflagen sehr streng sind und penibel befolgt werden. Abstand, Maske und gute Belüftung sind fundamental. Unterricht mit zehn Schülern pro Gruppe wäre ideal, mit 15 wird es schon schwieriger, 20 ist das absolute Maximum. Der Unterricht sollte so viel wie möglich unter freiem Himmel stattfinden und auf den Vormittag und den Nachmittag verteilt werden. Auf keinen Fall sollten alle Schüler gleichzeitig starten und fertig werden. Auch die Rückkehr aus den Ferien sollte so breit gestaffelt wie möglich stattfinden.

Eigentlich hatte man die zweite Welle erst im Herbst erwartet, nun kam sie mitten im Hochsommer.

Die Hitze hat die Ansteckungen nicht gestoppt. Dass die Zahlen jetzt schon so hoch sind, macht Sorge vor dem Herbst. Wenn dann die typischen saisonalen Krankheiten wie Grippe und Erkältungen mehr werden, wird die Angst unter der Bevölkerung wachsen, und viele werden PCR-Tests machen wollen, weil sie nicht wissen, ob die Symptome auf ­Covid-19 zurückzuführen sind. Das wird die Gesundheitszentren überlasten.

Einige wenige haben die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass die Zahlen in den kommenden Wochen wieder sinken könnten und Reisewarnungen aufgehoben werden. Ist das utopisch?

Ein Bekannter von mir, der Virologe ist, sagt immer: Wer ein genaues Datum weiß, der weiß nichts von Viren. Alle haben immer gedacht, dass die Zahlen im Sommer sinken, niemand hätte erwartet, dass es so schnell wieder hochgeht. Wir wissen schlichtweg nicht, wie sich das Virus im Herbst verhält.

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