Es ist Anfang März vergangenen Jahres, als Lore Bendgens ins Krankenhaus in Inca muss. Der heute 81-Jährigen geht es schlecht, Ärzte stellen einen Herzfehler fest, entlassen sie angesichts des bevorstehenden Lockdowns jedoch wenig später nach Hause. Alleine wäre die deutsche Mallorca-Residentin nicht zurechtgekommen, doch sie hat Glück: Vorübergehend kann sie bei ihrer Tochter unterkommen, die ebenfalls auf der Insel lebt. Als sie im Juli endlich wieder untersucht wird, betont ein Arzt den Ernst der Lage. Bendgens habe maximal noch ein bis anderthalb Jahre zu leben, nur eine OP könne helfen. Doch bis heute steht der Operationstermin aus.

Der Grund: Durch die Corona-Pandemie sind chirurgische Eingriffe in den Krankenhäusern. Vor allem das Landeskrankenhaus Son Espases in Palma, das die Herz-OP von Lore Bendgens durchführen soll, ist fokussiert auf die Corona-Patienten. Ende Dezember wurden - wie bereits im Lockdown im vergangenen Frühjahr - erneut jegliche nicht dringende Operationen vorübergehend ausgesetzt oder in die Räumlichkeiten privater Kliniken verlegt. Aktuell sinkt die Zahl der Corona-Patienten - zuletzt waren es in Son Espases nur 11 auf der Intensivstation, nach 57 vor wenigen Wochen. Wie ein Sprecher des Krankenhauses gegenüber der MZ angibt, werden die chirurgischen Eingriffe und die ambulanten Sprechstunden deshalb nun auch wieder hochgefahren. Doch die ohnehin seit jeher langen Wartelisten sind weiter ungleich länger als vor der Pandemie.

Das zeigen die Zahlen, die die balearische Gesundheitsbehörde IB-Salut auf ihrer Internetseite detailliert veröffentlicht: Während Patienten Ende 2019 in einem öffentlichen Krankenhaus auf den Balearen im Schnitt 79 Tage auf operative Eingriffe, die nicht als Notfälle gelten, warten mussten, betrug die Wartezeit im Dezember 2020 bereits 135 Tage. Das ist ein Anstieg von 71 Prozent. Aktuell (Stand: 14.3.) beträgt die durchschnittliche Wartezeit balearenweit 141 Tage, im Referenzkrankenhaus Son Espases sogar 152 Tage, nach 78 Tagen in Vor-Covid-Zeiten. 1.380 Patienten warten derzeit wie Lore Bendgens seit bereits mehr als einem halben Jahr auf einen chirurgischen Eingriff in Son Espases. „Alle medizinisch dringenden Operationen wurden auch während der schlimmsten Pandemie-Momente unverzüglich durchgeführt", heißt es aus dem Landeskrankenhaus. Doch was als „dringend" eingestuft wird, entscheidet natürlich der behandelnde Arzt.

„Hier liegt aber oft das Problem", kritisiert Carmen Flores. Sie ist die Vorsitzende der Patienten-Vereinigung Asociación del Defensor del Paciente. Von Madrid aus versucht der kleine Verein, der keinerlei staatliche Fördergelder erhält, Nachlässigkeiten zu ahnden, die Patienten des öffentlichen Gesundheitssystems widerfahren. „Im Vergleich zu Vor-Corona-Zeiten erreichen uns derzeit rund 30 Prozent mehr Beschwerden von Patienten", so Flores. „Und es werden immer mehr." Darunter seien auch Fälle, die das Expertenteam um den Verein als durchaus dringend einstuft.

Die Pandemie, so die Vereinsvorsitzende, habe für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht, was im spanischen Gesundheitssystem schon seit Jahren im Argen liege: Personalmangel, fehlende Investitionsbereitschaft und eine wachsende Privatisierung der medizinischen Leistungen. „Man könnte sowohl Krebs- als auch Herz-Kreislauf-Patienten unter strengen Hygienemaßnahmen problemlos operieren, ohne dass eine Covid-Ansteckungsgefahr besteht", findet sie. Doch es habe in den vergangenen zwölf Monaten immer wieder an Fachkräften und Platz gefehlt, da alle Kapazitäten für Corona eingesetzt wurden. „Im schlimmsten Fall sterben die Menschen dann nicht an Corona, sondern an den Folgen ihrer Erkrankung oder kommen mit so weit fortgeschrittenen Krankheitsverläufen in den Operationssaal, dass die Ärzte dann machtlos sind."

Neben der langen Wartezeit bei den Operationen seien auch die Wartelisten für ambulante Sprechstunden in Spanien und auf den Balearen lang. „Viele Behandlungen mit Haus- oder Fachärzten werden nur noch per Telefon gemacht, Kernspin- oder Computertomografien aufgeschoben, und teilweise werden so keine oder falsche Diagnosen gestellt." Der wahre Ursprung des Leidens werde so erst viel später entdeckt. „Dabei ist eine frühzeitige Diagnose häufig entscheidend", so Flores.

Das zeigen auch die Zahlen des balearischen Gesundheitsministeriums: Die Wartezeit für eine ambulante Sprechstunde bei medizinischem Fachpersonal verlängerte sich im Zeitraum von Dezember 2019 bis Dezember 2020 um fast 20 Prozent. Im Durchschnitt müssen Patienten des öffentlichen Gesundheitssystems auf den Balearen aktuell 44 Tage warten, bis sie einen Termin mit dem Arzt wahrnehmen können. 8.252 Patienten auf den Inseln warten laut den offiziellen Zahlen bereits seit mehr als zwei Monaten.

Wäre da nicht der Arzt gewesen, der ihr vor nunmehr acht Monaten ohne OP nur noch eine Lebenserwartung von 12 bis 18 Monaten prognostizierte - Rentnerin Lore Bendgens würde ihrem Herzfehler heute kaum noch Bedeutung beimessen. Mittlerweile geht es ihr trotz Nichtbehandlung gut, sie kann wieder alleine in ihrer Finca leben, hat weder Atemnot noch Schmerzen. Doch im Hinterkopf habe sie die Frist natürlich schon. „Aber ich mache mich nicht verrückt, ich kann an der Situation ja gerade nichts ändern."