Der Mallorquiner Joan Carles March ist Arzt und Professor für Öffentliche Gesundheit (Public Health) in Andalusien. Er beobachtet die Pandemie von Beginn an und ist spanienweit einer der gefragtesten Corona-Experten.  

Wir befinden uns mitten in der fünften Welle. Wie konnte es zu einer derart hohen, nie vorher dagewesenen Inzidenz kommen? 

Ich sehe mehrere Gründe. Die fünfte Welle begann mit dem Ende des Schuljahres und den Abschlussfahrten von Schülern. Die jungen Leute merkten, dass sie sich wieder mit Gleichaltrigen treffen und Reisen unternehmen konnten. Das kam zusammen mit der Entscheidung der Zentralregierung, die Maskenpflicht im Freien aufzuheben – wobei diese im Freien kaum Auswirkungen auf Infektionen hat. Aber alles in allem kam das Gefühl auf, dass die Pandemie ausgestanden sei. Ein weiteres Problem war, dass die jungen Leute noch nicht geimpft waren, und zusätzlich fiel diese Gemengelage zusammen mit der massiven Ausbreitung der Delta-Variante in Spanien. 

Das heißt, inzwischen zirkuliert das Virus längst wieder in der Bevölkerung?

Nicht ganz so unaufhaltsam wie noch in den vorherigen Wellen, aber doch vor allem unter den noch nicht komplett Geimpften und den jungen Menschen. Die Delta-Variante führt nun dazu, dass sich sogar doppelt geimpfte Menschen – rund fünf Prozent – infizieren. 

Die Krankenhausaufenthalte nehmen stetig zu, und auch wenn mehr als 50 Prozent der Balearen-Bewohner inzwischen doppelt geimpft sind, liegen inzwischen wieder mehr als 50 Menschen mit Covid-19 auf den Intensivstationen. Wieso so viele?

Wenn es viele Infektionen gibt, dann nimmt die Zahl derjenigen mit schweren Verläufen zu. Zunächst infizierten sich die Jugendlichen auf den Abschlussfahrten, bei den Trinkgelagen und anderen Veranstaltungen. Dann gaben sie das Virus weiter, auch an ältere, unvollständig Geimpfte. Wobei mehr als 80 Prozent derjenigen, die auf der Intensivstation liegen, nicht geimpft sind. Deshalb müssen wir noch schneller impfen.

Viele junge Menschen scheinen zu glauben, dass das Virus ihnen nichts anhaben kann. Was kann man dieser Bevölkerungsgruppe mitgeben?

Es ist verständlich, dass sie sich unverwundbar fühlen, weil die meisten von ihnen das Virus ohne Symptome überstehen. Aber es gibt eben auch einige wenige, die schwer erkranken. Viele junge Menschen glauben, besser vor dem Virus geschützt zu sein, als sie es in Wirklichkeit sind.

Ist die fünfte Welle mit den minimalen Einschränkungen zu besiegen, zu denen sich die Balearen-Regierung durchgerungen hat?

Zunächst einmal behaupte ich, dass die Balearen-Regierung im Vergleich mit den anderen autonomen Regionen die Pandemie im Jahr 2020 mit am besten gemanagt hat. Nach so vielen Monaten der Einschränkungen war der massive Ausbruch bei den Abifahrten ein echter Schock, der einen Wendepunkt markiert. Hier hätte die Regierung gleich von Beginn an stärker dazwischengehen und stärkere Beschränkungen veranlassen müssen. Nichtsdestotrotz gibt es auf den Balearen immer noch starke Einschränkungen im Nachtleben. Man wurde wohl überrascht von der Geschwindigkeit, in der die Infektionszahlen anstiegen. 

Können Sie nachvollziehen, dass Tausende deutsche Urlauber an der Playa de Palma Nacht für Nacht Trinkgelage veranstalten?

Nein, absolut nicht. Ich kann weder verstehen, dass im Juni massenhaft junge Spanier auf die Insel kommen, um das Schuljahresende zu feiern noch, dass jetzt mitten in der fragilen Situation auf den Inseln Ausländer nach Mallorca kommen und glauben, sie könnten hier ohne Einschränkungen feiern wie früher. 

Ist Mallorca in dieser Konstellation derzeit nicht eine perfekte Fabrik für Mutationen?

Wir wissen, dass eine hohe Zahl an Infektionen weitere Mutationen begünstigt. Deshalb besteht auf jeden Fall diese Gefahr. Gerade in einer Zeit, in der viele Menschen entweder gar nicht oder nur zum Teil geimpft sind. Wir können nicht ausschließen, dass es bei diesen hohen Inzidenzen eine neue Mutante gibt, gegen die die Impfungen weitgehend nutzlos sind. Wir wissen allerdings nicht, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie entsteht.

Wie geht es jetzt weiter? Der R-Wert sinkt, die Positivrate bleibt aber konstant. Wann gehen die Zahlen wieder runter?

Es ist sehr schwierig zu sagen, wann wir auf dem Höhepunkt der fünften Welle angekommen sind. Wir wissen nicht, was das Virus noch in petto hat. Aber ich denke, dass die starke Zunahme an Fällen auf den Inseln unter Kontrolle zu bringen ist. Gleichzeitig müsste die Impfung noch schneller voranschreiten. Man sollte auch die Restriktionen möglicherweise noch einmal verschärfen. Wir müssen wieder versuchen, die Kontakte zu reduzieren sowie die nächtliche Mobilität. Und wir müssen mehr testen und die Nachverfolgung der Infektionsketten ausbauen.

Wie lange werden wir uns noch über SarsCov-2 unterhalten müssen?

Ich glaube, das Virus gewinnt die Oberhand. Die europäischen Staaten sowie die USA und Südamerika haben beschlossen, mit demVirus zu leben. Wenn man so entscheidet, ist es schwierig, dasVirus zu kontrollieren, einzudämmen oder gar zu besiegen. Die einzige Möglichkeit wäre, die Vorgehensweise in Richtung Zero Covid zu ändern, so wie es etwa Neuseeland, Australien oder Japan gemacht haben. Sprich: drastische Einschränkungen, sobald es ein paar wenige Fälle gibt. Das hat im Übrigen der Wirtschaft weniger geschadet. In Europa werden wir dagegen wohl lange mit der Jojo-Situation leben müssen, also immer wieder zu öffnen und wieder einzuschränken.