9 Uhr - Es ist ein ruhiger Morgen. Zumindest sagen das hier alle Mitarbeiter. Im Warteraum sitzen eine Familie mit zwei kleinen Kindern, eine Jugendliche mit übergroßer, modischer Brille und ein Mann in einer quietschgelben Jacke, die zu warm für den Frühling ist. Das Telefon klingelt durchgehend, die Mitarbeiter am Empfang kommen nicht hinterher. Irgendwann ist das Läuten nur noch Hintergrundlärm.

Im dritten Stock telefoniert auch Diana Garau wie am Fließband. Die Ärztin arbeitet seit 8 Uhr, hat schon eine Videokonferenz hinter sich und sieht an diesem Morgen genau einen ihrer Patienten – dafür hört sie 33. Die Telefontermine kamen mit dem Lockdown, danach sind sie geblieben. Garau ruft die Patienten fast im Minutentakt an. Ihr Zeitplan sieht einen Patienten für 9.28 Uhr vor und gleich zwei für 9.36 Uhr. Ein Kollege ist krank, einige seiner Termine sind deswegen bei ihr gelandet. Um 9.40 Uhr geht es dann gleich weiter.

Corona war für die Gesundheitszentren auf Mallorca der ultimative Stresstest

Die 49-Jährige ist Allgemeinärztin im Gesundheitszentrum Porto Cristo. Gesundheitszentren sind die Nabelschnur des spanischen Gesundheitssystems, die erste Anlaufstelle für alles, was keine gefährlichen Notfälle sind. Auf Mallorca gibt es insgesamt 46 davon. Jeder Versicherte hat dort einen zugeordneten Hausarzt, der seine Patienten bei Bedarf an Spezialisten weiterleitet.

Die Ärzte und Ärztinnen sind schon in normalen Zeiten komplett ausgelastet, während der Corona-Pandemie standen selbst im ruhigen Porto Cristo die Leute bis an die nächste Straßenecke Schlange. Es war der ultimative Stresstest. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mussten Überstunden machen, kamen zu nichts anderem mehr, als Covid-Patienten zu versorgen.

Auch jetzt, wo das Schlimmste vorbei scheint, bleibt die Belastung hoch. Gesundheitszentren, auf Spanisch centros de salud, sind aus Patientensicht oft überfüllte Gebäude mit langen Wartezeiten und hektischen Ärztinnen oder Krankenpflegern. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist es Alltag mit knapp bemessener Zeit, in der sie möglichst auf jedes gesundheitliche Problem eine Antwort haben sollten.

Das Gesundheitszentrum in Porto Cristo ist auch an ruhigen Tagen gut besucht. Nele Bendgens

10 Uhr - „Das Besondere bei Allgemeinärzten ist, dass wir uns ständig auf etwas Neues einstellen müssen“, sagt Garau. Sie hat sich gerade die schmerzende Schulter eines Patienten angesehen, der einzige Präsenztermin an diesem Morgen, als Nächstes ist ein Telefontermin mit einem über 90 Jahre alten Mann an der Reihe, den sie nicht kennt. Er ist einer der Patienten ihres kranken Kollegen. Sie greift zum Hörer. Besetztzeichen. Das passiert ständig, das Gesundheitszentrum hat nicht genügend Leitungen für die vielen Telefonate.

Die Ärztin holt ihr Diensthandy raus und ruft an. Statt eines alten Mannes hebt eine hysterische junge Frau ab, den Tränen nahe. Sie erzählt, dass der ältere Herr, den sie pflegt, seit Tagen nicht schläft und sie auch nicht schlafen lässt. „Bitte, Sie müssen mir helfen“, sagt sie immer wieder. Garau beruhigt die Frau, macht einen Termin mit dem eigentlichen Arzt in der kommenden Woche aus und verändert die Medikation leicht, falls eine der Pillen den Mann nicht schlafen lässt.

Die Frau beruhigt sich und bedankt sich genauso überschwänglich, wie sie sich zuvor beschwert hatte. Manchmal sind Hausärzte auch Psychologen. „Ziemlich oft sogar“, sagt Garau, die viel lächelt und eine herzliche Ruhe ausstrahlt. Ihre Patienten und Patientinnen bauen schnell Vertrauen zu ihr auf, das merkt man sofort.

Diana Garau betreut im Winter in Cala Millor auf Mallorca viele deutsche Rentner

In dem Gesundheitszentrum von Porto Cristo ist die Ärztin nur an einem Tag pro Woche, die restlichen Tage arbeitet sie in der Außenstelle in Cala Millor. Bis 12 Uhr muss sie heute ihre Termine durchhaben, ab dann ist sie für Lungenpatienten eingeteilt. Wer einen Covid-Test braucht oder Corona-Symptome hat, muss in ein gesondertes Stockwerk. Jeden Tag sind ein Arzt und ein Pfleger eingeteilt, die sich um diese Kranken kümmern. Bis dahin telefoniert Garau. Als sie nach dem nächsten Gespräch auflegt, sind auf dem Bildschirm ihres Computers zwei weitere Termine hinzugekommen.

Je nachdem, mit wem sie es zu tun hat, spricht Garau auf Katalanisch, Spanisch oder auch Deutsch. Der zweite Nachname der Ärztin ist Metzinger, ihre Mutter ist Deutsche. Das ist hilfreich, denn unter ihren Patienten in Cala Millor sind viele Deutsche. Einige davon sprechen auch nach Jahren auf Mallorca nicht gut Spanisch. Garau nennt die deutschen Rentner, die auf der Insel überwintern, ihre „Winterpatienten“.

Sie hat aber auch „Sommerpatienten“. Saisonarbeitskräfte, die in den Hotels im Inselosten arbeiten. Insgesamt betreut Garau etwa 1.100 Patienten in Cala Millor und 400 in Porto Cristo. Manche davon betreut sie, seit sie vor 20 Jahren in Porto Cristo angefangen hat. „Bei solchen Patienten merke ich schon, was los ist, wenn sie durch die Tür kommen“, sagt Garau. Sie kennt die ganze Familie, die Kinder, die Ehepartner, die Eltern. „Das ist das Schönste an meiner Arbeit. Die Menschen zu kennen und ihr Vertrauen zu haben.“ Das Schlimmste sei die wenige Zeit, die sie pro Patient zur Verfügung habe. An manchen Tagen betreut sie in der Zeit von 8 bis 15 Uhr 50 Menschen.

Diana Garau ist Allgemeinärztin im Gesundheitszentrum Porto Cristo. Nele Bendgens

Das Gesundheitszentrum von Porto Cristo ist eines mit großen Fenstern, freundlichen Räumen mit orangenen Wänden, moderner Einrichtung und relativ wenig Patienten. In Palma sind die Räume häufig überfüllter, die Wartezeiten länger, die Menschen genervter. Aber gerade in Porto Cristo werden Fehler im System deutlich. Wenn selbst hier die Zeit knapp ist, reicht sie an anderer Stelle erst recht nicht. Garau ist eine große Verfechterin des öffentlichen Gesundheitssystems, das, wie sie sagt, alle Menschen gleichstelle. Aber auch sie hätte Verbesserungsvorschläge. Abgesehen von mehr Zeit, fehlten auch Vorsorgemöglichkeiten durch Zahn- und Frauenärzte, um Gesundheitszentren komplett zu machen, sagt sie.

10.30 Uhr - Während Garau im Minutentakt telefoniert, empfängt die Krankenschwester Aina Piña im Nebenraum Patienten. Sie überprüft den Blutzuckerspiegel von Diabetikern, kontrolliert bei anderen den Blutdruck oder nimmt Blutproben. Chronisch Kranke besuchen Piña etwa alle zwei oder drei Monate. Wenn alles gut geht, sehen die Patienten ihre Krankenschwester viel öfter als ihre Ärztin. „Am Anfang wollen die Patienten oft zum Arzt, aber dann merken sie, dass wir Krankenschwestern ihnen bei den meisten Problemen helfen können“, sagt Piña.

Krankenschwester Maret Seibt muss im Gesundheitszentrum Porto Cristo ihre Schutzkleidung anziehen, bevor sie mit möglichen Covid-19-Fällen zu tun hat. Nele Bendgens

11.30 Uhr - Garau und Piña kümmern sich um Patienten, die Termine haben. Aber ins Gesundheitszentren kommen auch große und kleine Notfälle. Maret Seibt sitzt im Erdgeschoss und wartet darauf. Die deutsche Krankenschwester hat Notfalldienst. Heute hat sie schon die Wunde eines Schreiners genäht, der sich mit einer Flex an der Hand geschnitten hatte, und eine Frau mit starken Blutungen ins Krankenhaus weitergeschickt. Sie behandelt hier Menschen, denen schlecht ist oder schwindelig. Sie überprüft Blutzuckerspiegel, Blutdruck, schließt die Patienten ans EKG an. „Teilweise haben wir so viel zu tun, dass wir nicht mal aufs Klo kommen“, sagt sie.

Seibt ist in Dresden geboren, hat in Hamburg ihre Ausbildung gemacht, seit 19 Jahren lebt und arbeitet sie auf Mallorca. Die 49-Jährige schätzt das spanische Gesundheitssystem. „Man ist in guten Händen“, sagt sie. Sie erzählt, hier in Spanien hätten Krankenschwestern mehr Aufgaben. Sie machen viel, was in Deutschland die Ärzte übernehmen. „Dadurch bekommen Krankenschwestern hier auch eine ganz andere Wertschätzung“, stellt sie fest.

Die Corona-Pandemie bleibt im Gesundheitszentrum Porto Cristo auf Mallorca ein Thema

12.30 Uhr - Die Corona-Pandemie mag das Gesundheitszentrum nicht mehr lahmlegen, aber bleibt weiterhin ein Thema. Seibt und Garau treffen sich im ersten Stockwerk, der Lungenabteilung. Sie helfen sich gegenseitig in die Schutzkleidung. Dann untersucht die Ärztin einen Mann, der bereits über 90 ist und positiv auf Covid getestet wurde. Seibt testet unterdessen weitere Patienten.

Wenn man die Ärztin nach einer Anekdote fragt, die ihre Arbeit beschreibt, überlegt sie lang. „Da gibt es so viele …“, sagt sie, erinnert sich an einen Hausbesuch. Die kleine alte Dame lag in einem riesigen Bett. Um zu ihr zu kommen, musste Garau mit auf die Matratze klettern, verbrachte dort eine halbe Stunde halb im Sitzen, halb im Liegen. Sie erinnert sich auch an einen selbst gebackenen Stollen, den sie von einer deutschen Patientin bekommen hat.

Die Arbeit im Gesundheitszentrum besteht nicht aus großen Abenteuern oder Heldentaten. Es sind viele Patienten mit kleineren und größeren Leiden. Es ist mehr Alltag als Notfall, mehr Erkältung als Herzoperation. Der ältere Herr mit Corona hat leichtes Fieber, ist aber sonst recht fit. Garau empfängt die nächste Patientin, die vor der Tür steht. Es ist inzwischen 13 Uhr. Zwei Stunden stehen noch an.

Öffentliches Gesundheitssystem auf Mallorca

Gesundheitszentren ersetzen im öffentlichen Gesundheitssystem in Spanien den deutschen Hausarzt. Je nach Wohnort werden die Versicherten einem centro de salud zugeordnet und dort einem Allgemeinarzt oder einer Allgemeinärztin zugewiesen. Es gibt keine freie Arztwahl.

Das Gesundheitszentrum mit seinen Ärzten ist außer in Notfällen der erste Anlaufpunkt. Wenn es einen Spezialisten braucht, leiten die Allgemeinmediziner die Patienten weiter. Normalerweise muss vor dem Besuch ein Termin ausgemacht werden. Die Gesundheitszentren behandeln aber auch kleinere Notfälle.

Die größeren Gesundheitszentren nennen sich PACs (Puntos de Atención Continuada) und haben 24 Stunden am Tag offen.

Bei schlimmen Notfällen sollte man in die Notaufnahme ins Krankenhaus. Auf Mallorca gibt es vier öffentliche Krankenhäuser: Inca, Manacor, Son Llàtzer (Palma) sowie das Universitätskrankenhaus Son Espases (ebenfalls Palma).

Ausländische Urlauber werden im öffentlichen Gesundheitssystem in Notfällen über die Europäische Versichertenkarte behandelt. Arbeitnehmer auf Mallorca werden über die Seguridad Social versichert, ausländischen Rentner können sich in das spanische System überweisen lassen.