In Es Jonquet, einem der ältesten Viertel Palmas, hat man Angst vor der Germanisierung. Aber warum gerade vor den Deutschen? Schließlich leben auch Briten, Russen, Österreicher und natürlich viele Mallorquiner in den schmalen Straßen oberhalb des Paseo Marítimo und neben dem Stadtteil Santa Catalina.

„Wir haben Angst, dass die Mieten so sehr steigen, dass kein normaler Mensch sich mehr eine Wohnung leisten kann", sagt José Manuel. Aha, um Mietpreise geht es also. Der 24-Jährige bewohnt mit seinem Vater eines der rund 100 Jahre alten Fischerhäuschen an der Plaça Vapor, dem Hauptplatz von Es Jonquet mit den Orangenbäumchen. Hier konnte man bis vor Kurzem noch italienisch essen, jetzt wird das Restaurant, es war das einzige im Viertel, zu einem Wohnhaus umgebaut. Drei Häuser weiter sind die Renovierungen bereits abgeschlossen: Den roten Eckbau krönt eine geräumige Dachterrasse. „Das Haus haben Deutsche gekauft, das passiert in letzter Zeit öfter", sagt José Manuel. Vielleicht denkt er: Drei Etagen für zwei Personen, die für ein paar Wochen im Jahr darin wohnen.

Wir folgen dem Mallorquiner über eine steile Treppe hinauf in sein Reich. Auch Touristen bietet er öfter an, seine Wohnung zu besichtigen. Die Räume sind klein und dunkel, Wände und Decken schief. Seine Großeltern hatten Glück, sie konnten zwei nebeneinander liegende Apartments zusammenführen. So hatten sie mehr Platz für sich und die fünf Kinder. „Das einzige, was uns fehlt, ist eine Terrasse", sagt José Manuel und führt uns nach hinten in die Küche. Durch die Glasscheibe sieht man ein Stück von der Kathedrale - und Teakholz-Liegestühle. Sie stehen auf der Dachterrasse des Nachbarn, die an die Wohnung von José Manuel und seinem Vater grenzt.

Zurück auf der Plaça Vapor verstehen wir, warum es so viele Hausnummern gibt: Die Eingänge liegen eng nebeneinander, in jedem Haus ist eine Wohnung im Erdgeschoss und eine darüber untergebracht. In der Nummer 29, unter José Manuel, wohnt Paquita. Sie zog mit 17 Jahren ins Viertel. Heute ist sie 69 und will in ihrem „Paradies Es Jonquet" sterben. „Es gibt nur ein Ärgernis bei uns und das sind die Disco­besucher am Wochenende", sagt sie. Die Nachtschwärmer der zwei Diskotheken Sala Luna und La Demence verrichteten ihre Notdurft zwischen den Pflanzkübeln und redeten lautstark direkt vor ihrer Haustür. Da Paquitas Bett hinter dem Eingang steht, wird sie nachts manchmal mehrmals geweckt und muss dann auch ihre beiden Hunde, einen Ratero und einen Yorkshire, beruhigen.

Erleichtert, weil sie nicht über ausländische Eindringlinge gesprochen hat, ziehen wir weiter, um den unbekannten Teil rund um die historischen Mühltürme, Es Jonquets Markenzeichen, zu erkunden. Früher lebten die Bewohner im „kleinen Schilf" direkt am Meeresufer, auf einem fünf Meter hohen Felsen geschützt vor den Wellen. Viele der niedrigen Fischerhäuser, manche halb verfallen, andere liebevoll renoviert, stehen noch immer Wand an Wand und folgen keinem städtebaulichen Plan. 2009 wurden sie unter Denkmalschutz gestellt.

Wir verlassen den Hauptplatz mit den Orangenbäumchen durch einen kleinen Durchgang in der Häuserzeile: Die Carrer Miquel Àngel Llauger führt labyrinthartig an niedrigen Reihenhäusern entlang, in vielen sind Sozialwohnungen untergebracht. Man sieht Plätze mit vertrockneten Blumen-Rondells und Hinterhöfe mit vor sich hin rostenden Waschmaschinen, doch wenn man den Blick hebt, auch Balkone mit weißen Sonnenschirmen.

Für Fußgänger gibt es mehrere Eingänge ins Viertel, im Süden über einen Treppenaufstieg vom Paseo Marítimo, im Norden über drei Zugänge von der Carrer de Sant Magí und im Osten über die Via Argentina an einem alten Wasserturm vorbei. Der genaue Zusammenhang der Straßen und Gassen innerhalb des 4,5 Hektar großen Areals, in dem es auch ein Altenheim, ein Mühlenmuseum und ein städtisches Kulturzentrum gibt, bleibt Besuchern eher unklar. Nur Bewohner wie Gisela und Golden Retriever-Hündin Puschi kennen alle Wege aus dem Effeff. Die geborene Schlesierin zog vor zwölf Jahren zufällig nach Es Jonquet. „Damals liefen hier noch finstere Gestalten herum, die mit Drogen handelten und es gab Roma, die in Schweineställen Kampfhähne hielten", erzählt sie auf dem Weg zu ihrem Haus. Weil Gisela ihre Gasse beim Einzug zu trist erschien, pflanzte sie Gummibäume, Mispelsträucher, Bougainvilleen und Palmen in große Kübel, stellte sie vor zugemauerte Türen und in unverputzte Ecken. Jede der Pflanzen ist inzwischen drei Meter groß und die Carrer Moruna die grünste in Es Jonquet. Die 79-Jährige sitzt am liebsten zwischen ihren Blumen vor der Tür, dahinter dienen ihr zwei kleine Räume zum Kochen, Fernsehgucken und Schlafen. Gisela zeigt uns den Herd, er steht auf Rollen, damit sie ihn dorthin schieben kann, wo er nicht im Weg steht. Eine Treppe führt in das Ladenlokal ihres Sohnes, der im Erdgeschoss ein Wassersport-Geschäft betreibt. Der Eingang liegt in der Carrer de Sant Magi.

Aus ihrem Korbstuhl blickt Gisela auf eine Reihe gepflegter Häuser, in einem mit Balkon wohnen Pedro und Isabel. „Früher haben wir regelmäßig Kaffee­trinken in unserer Straße veranstaltet", erzählt Pedro, der in der Carrer Moruna geboren ist. Heute vermisst er die Gespräche unter Nachbarn, die inzwischen aus der „aller Welt stammen". Pedro zeigt vage auf ein paar Haustüren, dahinter lebten Engländer, Deutschen, Österreicher.

Besonders viel los ist in Es Jonquet nicht, da hat der alte Fischer recht. Und so treffen wir auch niemanden, der etwas über das Jugendstilhaus in der Carrer Terrer zu sagen weiß. Wir drücken hintereinander die sechs Klingeln neben der prächtigen Haustür: Niemand öffnet. Über die Gegensprechanlage bekommen wir den Tipp, bei drei Nonnen eine Ecke weiter anzuklopfen.

Zwei Minuten später stehen wir in der guten Stube von Antònia, Maria und Francisca. Auf einem der Besucherstühle sitzt schon die 94-jährige Nachbarin Isabel. Can Figuerola gehörte früher einem der reichsten Mallorquiner von Es Jonquet, später wurde das Herrenhaus zur Pension umgebaut. Isabel kann sich noch an Zeiten erinnern, in denen sie für eine Pesete das alte Waschhaus an der Avinguda de l´Argentina nutzte. „Mein Vater war Fischer, aber viele Bewohner verdienten ihr Geld auch in den nahe gelegenen Glasfabriken", so die Mallorquinerin.

Antònia, Maria und Francisca sind inzwischen pensioniert, Mitte der 70er Jahre holte sie der Pfarrer von der benachbarten Kirche Verge del Miracle in das Problem-Viertel. Sie sollten sich um Roma, Drogenabhängige und Kinder auf der Straße kümmern. „Heute gehen die Kinder zur Schule, und Drogen werden hier nicht mehr verkauft", sagt Francisca. Die Ordensfrauen engagieren sich jetzt tatkräftig in der Nachbarschaftsvereinigung Es Jonquet. „Damit aus der ­Brach­fläche vor unserem Haus vielleicht mal ein Park für Bewohner wird", sagt Francisca und spielt auf das Acciona-Grundstück oberhalb des Paseo Marítimos an. Palmas Bau­dezernent plante, auf der freien Fläche zuletzt 85 Wohnungen, ein unterirdisches Geschäftszentrum und Parkhaus zu errichten. Die Pläne wurden abgelehnt.

„Was für ein Bau-Irrsinn", befindet auch Natalya. Die Russin lebt seit zehn Jahren mit Mann und Kind in dem schicken Architekten­haus am Mühlenmuseum. Beim Vorbeigehen hatten wir schon neugierig durchs Fenster gespäht. Jetzt sitzen wir mit Natalya um einen großen Esstisch aus Glas im ersten Stock. Von den gelben Designerstühlen aus hat man einen tollen Blick auf den Hafen. „Wir bekommen jeden Tag Angebote für unser Haus", erzählt die Russin, die mit ihrem deutschen Mann Golfreisen organisiert. Die Preise hätten sich in Es Jonquet in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt, wenn man überhaupt noch eine ansprechende Wohnung findet. Mit den Nachbarn hat das Paar nicht viel Kontakt, ihr kleiner Sohn kennt sich im Viertel besser aus als die Eltern. „Wir genießen es, hier zu wohnen", sagt die Russin, bei schönem Wetter kann die Familie auf der Dachterrasse essen. Wir denken an José Manuel und daran, dass die Welten in Es Jonquet oft weit auseinander liegen. Doch manchmal, da berühren sie sich noch.