„O Gott, du bist ja verrückt! Moment, ich helfe dir.“ Agustina Fernández unterbricht das Interview und springt in den Bus, der gerade Halt gemacht hat. Eine Frau um die 90 versucht gerade, zwei schwere Einkaufstaschen herauszuhieven ohne umzufallen. Fernández nimmt ihr die größere Tasche ab und bietet ihr den Arm. „Ich bin gleich zurück, Luisa wohnt eh hier nebenan.“

Fernández, so scheint es, kennt den Namen von jedem in Son Sardina. Immer wieder grüßt sie die Menschen auf der Straße, fragt nach ihren Familien, erzählt, wie es ihrer Mutter geht. „Hier in Son Sardina weiß früher oder später jeder, wer du bist“, erklärt sie und fügt dann hinzu: „Eher früher, wir lieben es zu tratschen.“ Typisch Dorfleben eben. Nur ist Son Sardina kein Dorf, sondern ein Stadtteil Palmas.

Neuer Raumordungsplan: Palma de Mallorca soll "verdichtet" werden

Wer durch die Straßen hier spaziert, vergisst recht schnell, dass er sich in einer Großstadt mit rund 420.000 Einwohnern befindet. Weite Wiesenflächen, kleine Häuschen mit großem Garten, ein idyllisches Bergpanorama am Fuße der Tramuntana. „Wir leben im Paradies“, sagt Fernández. Und im Moment befürchten die rund 2.800 Einwohner von Son Sardina, ihr Paradies zu verlieren.

Der neue Raumordnungsplan für Palma, der Plan General, sieht für das bevölkerungsarme Viertel zusätzliche 471 Wohneinheiten vor. Die Stadt soll „verdichtet“ werden, da passen Viertel mit viel Platz und wenigen Bewohnern nicht mehr ins Konzept. Während Palma insgesamt in den kommenden Jahrzehnten um etwa fünf Prozent wachsen soll, würden die Änderungen im Plan General die Bevölkerung von Son Sardina verdoppeln, sagt Fernández.

Agustina Fernández. Nele Bendgens

Agustina Fernández ist die Vorsitzende der Nachbarschaftsvereinigung Son Sardina. Die 53-Jährige ist in dem Viertel groß geworden, ihr war es wichtig, dass auch ihre Kinder in dieser geschützten Atmosphäre aufwachsen konnten. „Eigentlich sind wir ein Dorf, wir haben nur das Pech, dass wir zum Rathaus Palma gehören“, sagt sie schulterzuckend. Das „Dorf“, wie sie es nennt, besteht aus größeren und kleineren Häuschen mit ein bis zwei Stockwerken. Manche sind gelb, manche weiß, manche in Mauerfarben. Die Formen entsprechen keinem erkennbaren Muster. In manchen Gärten blühen schon die ersten Blumen, andere sind mit knorrigen Bäumen zugewachsen.

Das Viertel gleicht einer Patchworkdecke. „Und hier wollen sie irgendwelche großen Wohnblöcke hinstellen. Das passt doch nicht“, sagt Fernández. Sie kann sich erinnern, wie Eselskarren durch die Nachbarschaft zogen. Die Straßen sind auch heute noch eher asphaltierte Feldwege als richtige Straßen, führen im Zickzack zwischen Häusern und Wiesen hindurch.

Aus dem Garten wird eine Durchfahrtsstraße

Eine dieser Straßen – der Carrer Lau – endet als Sackgasse beim Haus von Stefanie Keller. Die Deutsche lebt seit 2017 in Son Sardina, genießt das „dörfliche Gefühl“ und den Garten, in dem ihre kleine Tochter und ihr Hund spielen können. Sollte der Plan General umgesetzt werden, wäre es damit vorbei. Eine der Flächen, auf der neue Wohnblöcke gebaut werden könnten, befindet sich direkt hinter ihrem Haus.

Um diese 53 Wohneinheiten zugänglich zu machen, müssten auch Straßen gebaut werden. Aus der Sackgasse würde eine Durchgangsstraße werden, Kellers schöner Garten wäre dann weg. Eine zweite Straße ist hinter ihrem Haus geplant. Sie wäre von den zwei Zugängen eingekesselt. „Die meisten Nachbarn sind gegen die neue Siedlung, wir finden sie schlecht geplant“, sagt Keller.

Kleine Häuschen mit großem Garten: So sieht es in Son Sardina aktuell aus. | FOTO: NELE BENDGENS

Die neuen Straßen mit dem erhöhten Verkehrsaufkommen und den Enteignungen seien an sich schon ein großes Problem für die Anwohner. „Von der bereits ausgelasteten Infrastruktur des Ortes ganz zu schweigen.“ Son Sardina ist aktuell nicht für viele Menschen gedacht. Es gibt keinen Marktplatz, keinen Hundepark, nur einen kleinen Spielplatz. In der Schule haben jetzt schon nicht alle Kinder aus dem Viertel Platz, Gleiches gilt für die Kinderkrippe. Bei insgesamt fast 500 neuen Wohneinheiten wären die engen Straßen ein Problem.

Außer den 53 Wohneinheiten bei Stefanie Keller sollen auch auf einer großen Wiese bei der Finca Can Simó 418 Wohneinheiten gebaut werden. Außerdem ist geplant, eine Wiese mit jahrhundertealten Ruinen zu einem Parkplatz mit 900 Plätzen umzuwandeln. Dort sollen Menschen, die aus dem Norden kommen, parken können und dann öffentlich nach Palma fahren.

Viele Nachbarn in Palmas Viertl Son Sardina sind aufgebracht

Wie Stefanie Keller sind viele Nachbarn aufgebracht. So aufgebracht, dass sich sogar eine eigene Bürgerbewegung gebildet hat, auch weil die Bewohner das Gefühl hatten, dass die Nachbarschaftsvereinigung nicht laut genug gegen den neuen Plan antrat.

Eine der Gründerinnen von Estimam Son Sardina (Wir lieben Son Sardina) ist Margalida Moll. „Wir dachten uns, das kann doch nicht wahr sein, dass das hier passieren soll“, erzählt sie. „Und die Nachbarschaftsvereinigung hat uns nicht genug informiert, also haben wir uns organisiert.“ In nur 48 Stunden hatten sich 300 Personen bei der Bewegung angemeldet, einige davon gingen auch zum Protestieren auf die Straße.

Inzwischen sind Bürgerbewegung und Nachbarschaftsvereinigung versöhnt. „Wir wollen alle das Beste für Son Sardina“, sagt Moll. Die Forderungen der beiden Vereinigungen sind aber nicht ganz deckungsgleich. Denn Estimam Son Sardina verlangt crecimiento cero, also Nullwachstum. Moll sagt, nur so könne die Besonderheit des Dorfes bewahrt werden.

Agustina Fernández sagt, sie verstehe die Menschen von Estimam Son Sardina. „Das Viertel hat sich in den vergangenen 40 Jahren extrem verändert und die Menschen wollen nicht, dass sich noch mehr verändert.“ Trotzdem sei die Nachbarschaftsvereinigung bereit, mit der Stadtverwaltung Kompromisse einzugehen. „Es ist klar, dass wir ein wenig wachsen müssen, aber dann soll es so sein, wie es zu Son Sardina passt“, sagt Fernández.

Proteste gegen den Plan. | FOTO: MARGALIDA MOLL Marlene Weyerer

Kleine Häuschen statt Wohnblöcke, kein übertriebenes Wachstum, die Essenz beibehalten. Und im Ausgleich für die neuen Bauten wünscht sich die Nachbarschaftsvereinigung auch Investitionen in ihr Viertel. Fernández zeigt eine kleine Wiesenfläche im Zentrum von Son Sardina. Hier könnte ihrer Meinung nach ein Dorfplatz gebaut werden, an dem dann ein Gemeindehaus stünde, in dem sich die verschiedenen Gruppierungen von Son Sardina treffen.

Im Moment müssen die Vereine sich einzeln in irgendwelche Räume einmieten, der Seniorentreff ist beispielsweise in einem zweiten Stock über der Bank nicht für jeden zugänglich. Um den Platz herum könnten, so Fernández, 20 bis 30 Häuschen stehen. „Dann hätten wir alle etwas vom Wachstum“, sagt sie.

Palma de Mallorca: Wut auf den Plan General

Fernández steht erst seit einem Jahr der Nachbarschaftsvereinigung vor. Die Altenpflegerin ist vor fünf Jahren beigetreten, weil sie sich dafür einsetzen wollte, dass Jugendliche einen Treffpunkt in Son Sardina bekommen. Den gibt es weiterhin nicht, die Stadt verweist auf Jugendzentren in anderen Ecken Palmas. Mit dem Streit um den Raumordnungsplan hat sie jedenfalls nicht gerechnet.

Die 53-Jährige wird manchmal wütend, wenn sie über den Plan General spricht. Sie hätte den Ärger vieler Nachbarn abbekommen, die dachten, die Nachbarschaftsvereinigung unterstütze die Ideen der Stadtverwaltung. Dabei hätten sie im Vorhinein viele Vorschläge gemacht, die dann alle ignoriert wurden. Am Ende sei die Vereinigung nur ein Sprachrohr, echte Macht habe sie nicht. Den Raumordnungsplan machten andere.

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„Was wissen die schon?“, sagt Fernández. „Sie sehen Lücken und füllen sie. Aber sie haben keine Ahnung von uns, von unserem Dorf und unserem Leben.“ Zur Angst vor den großen Veränderungen mischt sich in Son Sardina auch die Angst vor zu viel Spekulation.

Die Nachbarn fürchten, dass Luxusimmobilien gebaut werden, die dann doch wieder nur an Ausländer verkauft werden, die auf Mallorca eine Ferienresidenz oder eine Geldanlage suchen. Sie fürchten, dass ihr ruhiges Viertel gentrifiziert wird, weil es in Palma zu eng wird. Sie fürchten, dass aus ihrem Dorf doch noch ein Stadtviertel wird. Und zwar eines, in dem sie selbst nicht mehr leben können. „Wer sagt denn, dass das, was gebaut wird, für mich und meine Kinder ist?“, fragt Agustina Fernández.