Wenn einer, der völlig verwahrlost in seinem Haus in Südmähren (Tschechien) lebt, in hohem Alter plötzlich zum Shootingstar der internationalen Kunstszene wird, dann muss er einen einflussreichen Entdecker haben. Oder die Zeit reif für sein Werk sein. Oder man muss Miroslav Tichý heißen, auf den ganzen kommerziellen Kulturbetrieb pfeifen und dadurch eine so einzigartige Stellung einnehmen, dass alle Welt auf ihn aufmerksam wird. Im besten Fall kommt alles zusammen. Jedenfalls hat dieser kauzige Individualist, Jahrgang 1926, es geschafft, ohne sein Zutun und quasi wider Willen, mit seinen verwaschenen Schwarz-Weiß-Fotografien zu überzeugen, mit Arbeiten, die auf den ersten Blick naiv wirken, bis sie bei näherer Betrachtung ihre ganze eigene Kraft, ihre Schönheit, ihre Formensprache entfalten, kurzum zu einem Aha-Erlebnis werden, eines mit Nachhall.

Die Werke Tichýs wurden in nur fünf Jahren in Amerika, Asien, Australien und Europa gezeigt, darunter - gewissermaßen als Ritterschlag - im Centre George Pompidou in Paris. Jetzt sind rund 60 Arbeiten - Fotografien, Zeichnungen, eine Art Skulptur und ein Ölgemälde - in der Galería Kewenig in Palma zu sehen. Titel der Schau: „Prayers, Dreams and Goddesses“ (Stoßgebete, Träume und Gottheiten).

Das zentrale Thema dieses Künstlers, der als Gegner des kommunistischen Regimes immer wieder in psychiatrischen Anstalten und Gefängnissen verbracht hat, sind die Frauen, in Ganzkörperaufnahmen und Details, Bauch, Beine, Po, Busen. Voyeurismus wurde ihm vorgeworfen, weil er meist junge Damen in klassischen Posen beim Sonnenbad im Schwimmband, auf Parkbänken, auf der Straße ins Visier nahm, manchmal tat er es versteckt, manchmal offen. Doch als Objekt der Begierde haben die Frauen den Eigenbrötler, der zeitweise dem Alkohol verfallen war, wohl nie interessiert. Zu groß, gestand er einmal, sei seine Angst vor emotionaler Abhängigkeit.

Manche Frauen kokettierten regelrecht mit seiner Kamera, weil sie glaubten, dass dieser zerlumpte Typ, dieses verrückte Huhn mit seinem selbst gebastelten Equipment ohnehin keine Fotos schießen könne … Tichý hatte mangels anderen Materials seine abenteuerlichen, dabei überaus funktionsfähigen Kameras teilweise selber hergestellt, mit Gehäusen aus Pappe, die mit Teer und Kaugummi zusammengehalten wurden, mit Objektiven aus Toilettenpapierrollen und Konservendosen, mit Linsen aus alten Brillengläsern oder Plexiglas, das er mit einem Messer so lange zurechtschnitt, bis es passte.

Er fotografierte obsessiv, betätigte mitunter 100 Mal am Tag den Auslöser - und machte, wenn er dieses selbst gesetzte Tagessoll nicht erreichte, abends weiter, indem er Bilder vom Fernseher ablichtete. Keines seiner Fotos, die er stets in einem Umkreis von nur fünf Kilometern in seinem Heimatort Kyjov machte, trägt einen Titel, fast keines ist signiert, datiert. Die Filme entwickelte er selbst, in einer Bretterbude neben seinem Haus, die als Dunkelkammer diente. Bromflecken finden sich auf den Fotos, Kratzer, Fingerabdrücke, sogar die ein oder andere mitentwickelte Fliege ist auszumachen. Das, befand er, gehöre zur Kunst. Tichý übermalte Details, klebte die Bilder auf Pappe, verpasste ihnen farbige Rahmen mit und ohne Ornamenten. „Das alles macht seine Arbeiten so besonders“, sagt Adi Hoesle, Kurator der Stiftung Tichý Ocean. „Sie heben sich in dieser Originalität, mit diesem Mut zur Unvollkommenheit, zum Fehler, von der cleanen digitalen Fotografie radikal ab.“

Tichý hatte in den 1940er Jahren die Prager Kunstakademie besucht, galt als talentierter Maler und Zeichner, stets bestens gekleidet in maßgeschneiderten Anzügen, die sein Vater, ein Schneider, ihm zur Verfügung gestellt hatte. Doch lag er immer wieder mit dem kommunistischen Regime quer, prügelte sich mit der Polizei, weigerte sich zu malen, was die Oberen wollten, wendete sich schließlich der Fotografie zu. Und machte mit den Bildern, was er wollte. Verbrannte sie stapelweise, warf sie auf den Boden, legte sie in den Regen, pinkelte drauf.

Entdeckt wurde Tichý schließlich von dem Kurator Harald Szeemann, der das Werk dieses Enfant terrible bei der Biennale in Sevilla 2004 erstmals ausstellte und damit für reichlich Aufsehen sorgte. Szeemann selbst rückte die Arbeiten in die Nähe derer von Sigmar Polke und Gerhard Richter. Allerdings bedurfte es einiger Überredungskunst, Tichý dazu zu bringen, überhaupt Fotos für Ausstellungen herauszurücken. Ihr Verkauf interessiert ihn nicht. Mittlerweile bemüht sich die Stiftung Tichý Ocean, seine Bilder gegen die anderer Künstler zu tauschen, um schließlich eine Sammlung zusammenzustellen, die eines Tages in einem Museum für zeitgenössische Kunst in Prag gezeigt werden soll. „Ein Tauschgeschäft, das den Kunstmarkt auf den Kopf stellt“, sagt Hoesle. „So etwas gefällt Tichý.“

Tichý, über 80 Jahre alt, arbeitet heute nicht mehr, lebt zurückgezogen in Kyjov, zusammen mit einer schwarzen Katze, die ihm wenigstens teilweise die Ratten und Mäuse vom Leib hält, mit denen er seine Behausung teilt. „Die Katze ist das einzige Lebewesen, das mich liebt“, hat er einmal gesagt und dann hinzugefügt: „Weil ich ihr zu fressen gebe. Ich glaube an nichts und niemanden. Nicht mal an mich selbst.“

Vernissage: 19. Februar, 20 Uhr. Die Schau läuft bis zum 11. April.

Galería Kewenig, C/. Sant Feliu, s/n, Palma

Tel.: 971-71 6134

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