Die Rebellion zeigt sich im ersten Satz. Dieser zieht sich mit zahllosen Kommas und wiederkehrenden Refrain-Teilen über Aufenthalte des Erzählers auf Sardinien, in Las Vegas und in Thailand, Reflexionen über Coca-Cola, Filme und Autoren bis Seite 78. Ein melodiöser Bewusstseinsstrom, der den Leser aber auch ungeduldig bis zum erlösenden Punkt hasten lässt. Nach dem Mega-Satz folgen kurze Absätze, Fotos, eine andere Schriftart, das Roadmovie wird zum Thriller, bis das Buch – Roman mag man es nicht wirklich nennen – mit einem Comic des mallorquinischen Zeichners Pere Joan endet. Im Internet gibt es dazu einen künstlerisch verfremdeten Dokumentarfilm über Werk und Autor. Das ist „Nocilla Lab", seit wenigen Wochen auf dem Markt und krönender Abschluss der 2006 begonnenen Trilogie experimenteller Romane, „Proyecto Nocilla", von Agustín Fernández Mallo.

Der in Palma de Mallorca lebende 42-jährige Galicier ist die Galionsfigur einer Reihe von Autoren, die derzeit die spanische Literaturszene aufmischen und als generación nocilla (Nutella-Generation) bekannt sind. Dieses Etikett erfanden Journalisten in Anlehnung an Mallos Werk. Sie selbst ziehen die Bezeichnung generación afterpop oder postpoética vor.

Die Trennung von Gattungen, Disziplinen, E- und U-Kultur – adiós. Mallo, Eloy Fernández-Porta, Vicente Luis Mora und Co mixen Roman, Gedicht und Essay, gestalten Blogs, würzen mit audiovisuellen Beigaben, ersetzen den linearen Plot durch vage zusammenhängende Fragmente und beziehen sich auf renommierte Literaten ebenso wie auf Unterhaltungs-TV. „Für mich ist Fernsehen die perfekte Inspirationsquelle. Ich bin eine Person meiner Zeit und erzähle darüber, was ich sehe und was mich beeinflusst", sagt Mallo. In seiner Welt stehen etwa seine Lieblingsserien „Ghost" und „Lost" auf Augenhöhe mit den Werken von Johann Sebastian Bach und Jorge Luis Borges. „Ich sage nicht, dass es das Gleiche ist, aber in der heutigen Welt ist beides gleich wichtig. Ich spreche mit dir genauso über das, was ich gestern im Fernsehen gesehen habe, wie über die gerade angehörte Klassik-CD."

Auf den Fotos schaut er stets streng, doch live wirkt Mallo heiter und entspannt, trotz seiner derzeitigen gewaltigen Promotion-Tour für „Nocilla Lab". Die Interviews gibt er im Halbstunden-Rhythmus. Bisheriger Rekord: 14 Journalisten-Audienzen, immer mit Cola und Zigaretten, an einem Tag in Madrid. Mallo ist auch ein Medienphänomen, in diesen Tagen wieder in der gesamten spanischen Presse präsent, aber immer auch über sein Blog „El hombre que salió de la tarta" (Der Mann, der aus der Torte kam) im Kontakt mit seinen Lesern. Der Autor nicht als ferne Eminenz, sondern als Mensch zum Anfassen – zumindest digital.

Dabei ist sein Vollzeit-Job ein ganz anderer. Der studierte Physiker arbeitet in der Strahlentherapie von Krebskranken im Krankenhaus Son Dureta. Davor oder danach schreibt er Artikel, Romane, Gedichte. Sobald es ihn überkommt, egal wo. „Ich bin sehr impulsiv, nicht methodisch." Dazu kommt natürlich der Konsum von Fernsehen, Internet, Filmen (Alfred Hitchcock, Jim Jarmusch, Independent- und Billigkino) und Literatur (Thomas Bernhard, Julio Cortázar, Don DeLillo). Sein Schlafbedürfnis hat er auf fünf Stunden reduziert.

Schnell noch drei Fragen, bevor Mallo vom nächsten Journalisten vereinnahmt wird: Kann man heute überhaupt noch gut schreiben, ohne die moderne Welt zu verarbeiten? „Ich glaube schon, dass Autoren, die der traditionellen Linie folgen, gut sein können, aber nicht zeitgemäß. Das ist eine Art Nostalgie, wie wenn du ein mittelalterliches Haus baust statt ein modernes." Der Avantgarde-Schriftsteller Spaniens mit Wohnort Mallorca, nicht gerade der Avantgarde-Hotspot der Nation – wie geht das zusammen? „Was heute zählt, sind die Dinge, die in den Medien geschehen, nicht die reellen Ereignisse in einer Stadt." Im Übrigen sei er nach Mallorca gekommen, weil er gedacht habe, hier gäbe es ähnliche Hochhausschluchten wie in der Touristenhochburg Benidorm an der Costa Blanca, eine Ästhetik nach Mallos Geschmack. Mittlerweile habe er sich „an die Schönheit der Insel gewöhnt". Wie geht es mit der Literatur überhaupt weiter? „Das wird eine Art persönliches Laster von ein paar Romantikern, die gerne lesen und schreiben."

Die Bücher von Agustín Fernández Mallo sind derzeit nur auf Spanisch erhältlich.

In der Printausgabe lesen Sie außerdem

- Kein Illustrator ohne Comic: Professor Hendrik Dorgathen

- Keine Musik ohne Zusammenarbeit: Jazz Voyeur Festival auf neuem Weg

- Keine Chance ohne Selbstkritik: Kulturhauptstadt Balearen