Seinen größten Szenenapplaus erhielt der deutsche Autor und Philosoph Hans Magnus Enzensberger am Sonntag (12. 9.), als er sagte, dass er von hochtrabenden Diskursen die Nase voll habe. Darin mag sich eine gewisse Erschöpfung des Publikums widergespiegelt haben. Oder aber die Freude über Bodenhaftung nach drei Tagen Diskussion zwischen professionellen Schreibern. „Masken des Ich" hieß das Thema der dritten Ausgabe der Literaturgespräche im Hotel Formentor am vergangenen Wochenende.

Die Abschlussdebatte mit Enzensbergers einzigem Auftritt zeigte, wie der Faden trotz guter Moderation (Basilio Baltasar) verloren gehen kann. „Hommage an das frühere Ich" war der Titel, und Baltasars Einstieg in diese Diskussion über Wesen und Unwesen der Biografie und Auto­biografie war vielversprechend. Er versuchte, das Gespräch auf die „schreckliche Macht" zu lenken, die andere über das Bild haben, das man sich von einer Person macht. Daraus erkläre sich der Wunsch, sein eigenes Image mit einer Autobiografie zu „panzern".

Ausgehend von hier hätten die Geistesgrößen über die Darstellung und Entstellung des Individuums in alten wie neuen Medien sprechen können, und der Schritt wäre auch nicht weit gewesen zu einer tieferen Analyse aktueller Phänomene wie etwa der kollektiven Selbstentblößung im Internet.

Doch das Podium blieb bei Biografen und Büchern und produzierte auf diesem weiten Feld auch einen Reigen ­interessanter und origineller Gedanken. Enzensberger etwa misstraut der Autobiografie. Gedächtnisschwäche könne auch ein Segen sei, sagte er: „Für mich ist die Kunst des Vergessens sehr wichtig." Zudem produziere ein Leben vielfältige Ichs: „Jedes Individuum ist eine Art Parlament, ein Chaos aus unterschiedlichsten Ichs. Dieses auf ein einziges reduzieren zu wollen, erscheint mir schwierig." Die Figur des Biografen hingegen erhob der auch in Spanien hoch geschätzte Autor zu einer Art Forschungsreisenden, der „die letzten wirklich exotischen Orte, die letzten wahren weißen Flecken auf der Landkarte" erkundet: die Vergangenheit.

Die Replik kam von Rafael Argullol. Er verteidigte die Autobiografie: Persönliche Erlebnisse könnten zu wichtigeren Einsichten führen als philosophische Studien, und diese ließen sich wiederum am besten anhand besagter Erlebnisse vermitteln. Der katalanische Autor lieferte auch die wohl originellste Definition des Ich, indem er den Text einer surrealistischen Tafel zitierte, die er bei einer Reise durch Mexiko entdeckt habe: „Privater Club, ausschließlich für Mitglieder und Nichtmitglieder". Genau das sei das Ich. Ein privater Club, der nur über andere mit sich ins Reine käme. Wonach Argullol als weitere schöne Metapher das Bild des Sportlers im Fitnesszentrum vorschlug, der sich beim Training im Spiegel betrachtet. „So findet man niemals zum Ich."

Enzensbergers selbstironische Art („Ich bin unfähig, einen Vortrag zu halten", „ich tauge nicht zum Philosophen", „ich will nicht alles wissen") eroberte die Sympathie des Publikums ebenso wie – posthum – José Saramago. Ihm widmeten seine Witwe Pilar del Río und der Gelehrte Perfecto Cuadrado eine Hommage, die, obwohl hart an der Tränengrenze, dem Niveau des verstorbenen Literaten Ehre machte.

Den Tod der Bildung hingegen malten die Verleger an die Wand, die in Formentor hinter verschlossenen Türen konferierten. In einem Kommuniqué beklagten sie die Verarmung und Banalisierung der Kultur und verlangten eine ernsthafte Bildungsreform, die über das Verteilen von Laptops an Schüler hinausgehe. Den Medien warfen sie vor, ihre Aufgabe der Kritik und Information nur noch unzureichend wahrzunehmen.

In der Printausgabe vom 16. September (Nummer 541) lesen Sie außerdem im Ressort Kultur:

- Ziemlich stürmisch: María Pagés tanzt Flamenco in Palma

- Ziemlich chaotisch: NeoTokyo – Festival für elektronische Musik

Diese Artikel finden Sie auch hier.