Sie ist für den Höhepunkt der wichtigsten Christmette Mallorcas verantwortlich: Am Freitag (24.12., 23 Uhr) wird Cristina van Roy in der voll besetzten ­Kathe­drale von Palma das Sibyllenlied vortragen. Wir ließen uns von der 23-Jährigen erklären, wie dieser im November zum Weltkulturerbe erklärte Brauch aus der Perspektive der Interpretin erlebt wird. Die Tochter einer Norwegerin stammt aus Port d´Andratx und hat Gesang studiert. Sie ist Stammsolistin der Capella Mallorquina und steht im Chor des Teatro Real in Madrid unter Vertrag.

Wie wurden Sie zur Sibylle der Kathedrale?

Seit 2001 singe ich in der Capella Mallorquina. Das ist der Chor, der die Sibylle traditionell in der Kathedrale aufführt. 2003 wurde dafür eine neue Vorsängerin gesucht, und weil man für das Lied eine feine, fast knabenhafte Stimme braucht - ursprünglich wurde die Sibylle ja von Knaben gesungen - wurde ich gefragt. Ich war damals 16 und das jüngste Chormitglied. Meine Stimme hatte am wenigsten Volumen.

Ist es für Sie etwas Besonderes, die Sibylle zu singen?

Na, das ist nicht irgendein Konzert. Zum einen wird die Sibylle nur einmal im Jahr aufgeführt, zum anderen ist die Rolle etwas ganz Besonders. Da schlüpfst du in die Rolle einer Weissagerin, die den Weltuntergang prophezeit, und das am 24., der doch eigentlich ein froher Tag ist. Das ist schon ziemlich heftig.

Wie fühlt es sich an, den Weltuntergang zu besingen?

Überwältigend. Ich stelle mir diese Frau vor, wie sie klar sagt, was die Leute erwartet, und da spüre ich richtig, welche Macht sie hatte. Das muss man sich mal vorstellen: Wahrsagerin zu sein und die Zukunft vorhersehen zu können, das ist keine Kleinigkeit. Und wie sie sich ausdrückt!

Wie drückt sie sich denn aus?

Die Strophen sind richtig heavy. Erst kündigt sie an, dass Jesus Christus, der König der Welten, vom Himmel herabsteigen und über jeden gerecht richten wird. Das ist noch nicht so schlimm, aber dann singt sie, dass er zu den Bösen unbarmherzig sein wird. Sie werden in ein ewiges Feuer verdammt werden, also in die Hölle, wo ein fürchterlicher Höllenkönig herrscht. Das große Feuer wird vom Himmel herunterkommen - damit ist die Sonne gemeint - und die Flüsse werden verbrennen und Fische fliegen. Dann spricht sie auch von den Guten, aber die einzige Strophe, die zu Weihnachten passt, ist die letzte. Eigentlich ist das Sibyllenlied ja ein heidnischer Gesang. Aber am Ende singt sie von der Jungfrau, die in dieser Nacht Gottes Sohn geboren hat, der uns retten will.

Wenn Sie die Kathedrale betreten, wer sind Sie da - die Sibylle oder Cristina?

Nein, in diesem Moment bin ich die Sibylle. Da versetze ich mich ganz in die Rolle der Wahrsagerin, die den Weltuntergang prophezeit. Und bei jeder Strophe versuche ich, den angemessenen Ton zu treffen und die Aussage rüberzubringen, damit das Publikum das versteht und sich hineinversetzen kann.

Also singen Sie nicht nur, sondern vollführen auch ein Schauspiel?

Nein, das nicht. Ich stehe ganz ruhig da und halte ein Schwert in den Händen, während ich singe. Dafür stelle ich musikalisch dar. Wenn ich von den Guten singe, dann tue ich das mit einer lieblichen, ganz sanften Stimme. Und wenn es um die Bösen geht, dann ist meine Stimme sehr entschlossen, fast aggressiv. Und mehr als einmal habe ich gemerkt, wie die Zuhörer mit dem Gesang mitgehen, wie sie das ergreift. Die Strophen sind zwar in Altmallorquinisch geschrieben und zum Teil schwer verständlich, aber die mallorquinischen Zuhörer kennen den Inhalt genau, besonders die Älteren. Manche kommen sogar nur wegen der Sibylle in die Kathedrale.

Macht Sie so viel Erwartung nicht nervös?

Sobald ich zu singen beginne, verfliegt die Nervosität. Aber ich habe immer genug Adrenalin in mir, um mit Ausdruck singen zu können. Ich agiere gern vor Publikum, je mehr, umso besser. Ohne Zuschauer wäre das zu nüchtern. Aber sie verursachen mir auch eine Gänsehaut. Wenn sich das Tor öffnet und ich aus der Sakristei in die Kathedrale eintrete, spielt die Orgel mit voller Lautstärke. Die Kathedrale ist zum Bersten voll und alle stehen auf und beugen sich vor, um die Sibylle zu sehen. Ich komme kaum an den Menschen vorbei. In dem Moment bekomme ich immer eine Gänsehaut. Zwei Jungen begleiten mich. Sie tragen eiserne Kerzenleuchter und machen mir den Weg frei. Ich schreite durch den Mittelgang bis zum Altar. Dort verbeuge ich mich vor dem Bischof und dann ersteige ich die Kanzel. Immer halte ich das Schwert vor mir in den Händen.

Was bedeutet das Schwert?

Man sagt, es sei das Symbol der Wahrsagerin. Außerdem schneidet sie damit das Brot. In der Kathedrale machen wir das nicht, aber in den anderen Kirchen. Im Mittelalter waren die meisten Menschen ja sehr arm. Und so teilte die Wahrsagerin am Ende mit dem Schwert einen Laib Brot und die Menschen aßen davon.

Ist das Lied gesangstechnisch eine Herausforderung?

Für Kinder, die ja die Sibylle traditionell gesungen haben, war es eine. Zum einen muss man einen langen Text auswendig lernen. Zum anderen muss man das cantare sul fiato beherrschen. Fiato heißt, dass man mit einer einzigen Atmung eine sehr lange Melodie singen muss, ohne zwischendurch wieder zu atmen. Für mich ist das nicht so schwer wie die Interpretation der einzelnen Strophen. Da ist hohe Konzentration notwendig.

Ist für die Sibylle viel Probenarbeit erforderlich?

Im ersten Jahr haben wir viel geprobt und ich habe mich über den historischen Hintergrund informiert. Aber nach neun Jahren weiß man schon, worum es geht. Außerdem singe ich die Sibylle nicht nur in der Kathedrale. Am 24. singe ich sie zuerst in einem Kloster in Palma. Es gab auch schon Jahre, in denen ich die Sibylle am Heiligabend dreimal gesungen habe. Wenn ich dann in die Kathedrale komme, bin ich aufgewärmt (lacht).

Worauf sollten Zuhörer besonders achten?

Wie sich die Stimme von Strophe zu Strophe verändert, wie sie mal aggressiv und ärgerlich, mal sanft und lieblich ist. Man merkt genau, wann sie sich an die Bösen und wann an die Guten richtet.

Was bedeutet es für Sie, dass die Sibylle zum Weltkulturerbe ernannt wurde?

Natürlich ist es für mich eine Ehre, die Sibylle singen zu können. Ich bin stolz darauf und weiß, dass der Erwartungsdruck noch größer wird. Aber es ändert sich nichts für mich. Ich werde singen wie immer. Ich versuche jedes Jahr, dieses Lied für das Publikum so glaubwürdig wie möglich zu interpretieren und mich immer ein bisschen zu verbessern.