Dass Manfred Kullmann heute lediglich Insidern bekannt ist, hat damit zu tun, dass er mit 60 Jahren nach einer erfolgreichen Karriere als Pianist, unter anderem für die Bigband des Hessischen Rundfunks, Komponist und Arrangeur alles hinschmiss und mit einem Segelboot dem Erfolg und seinen unerwünschten Nebenwirkungen davonfuhr. Das Reiseziel war die Karibik, doch ein Freund schlug ein Treffen auf Mallorca vor. Zufällig feierte der Club Real Náutico in Palma ein Hafenfest, und Kullmann war nach ein paar Takten am Klavier express-integriert. Flugs fand er einen Liegeplatz, eine Wohnung, eine neue Partnerin und mit der Zeit auch wieder die Freude an der Musik.

Nach einer zwölf Jahre langen „Chill-out"-Phase mit sporadischen Auftritten bastelt der heute 72-jährige und mehr als nur rüstige Musiker – mit dem Rennrad fährt er noch manchem Babyboomer davon – an einem ernsthaften Comeback. Sein neues Manfred Kullmann Trio, mit Toni Cuenca am Bass und José Luis García am Perkussionskasten „cajón", feiert am Sonntag (20.2.) auf der Kulturfinca Son Bauló Premiere. Das Programm: Jazzversionen klassischer Werke von Komponisten wie Chopin, Debussy, Satie und Bach, mit einer Prise Flamenco.

Wir sprachen mit Manfred Kullmann über den Charme der Improvisation und den Nutzwert von Badewannen in Segelbooten.

Sie sind ein Befürworter der Fusion, also der Verschmelzung verschiedener Musikstile. Verstehen Sie Puristen, die das nicht mögen?

Ich verstehe Puristen. Anhänger klassischer Musik sind bestimmt keine Rhythmusfanatiker. Und auch die Improvisation ist bei ihnen eher verpönt. Dabei war die Improvisation früher Bestandteil der klassischen Musik und ist erst im Lauf der Jahrhunderte aus ihr verschwunden.

Meinen Sie damit jene Komponisten, die für Ihre Improvisa­tionskunst bekannt waren?

Von Bach heißt es, dass er sogar eine Fuge improvisieren konnte. Aber das war nur ein Teil der Realität. In jedem klassischen Konzert kommt für den Solisten irgendwann die Kadenz. Hier sagt der Komponist: Lieber Solist, du hast mein Werk studiert, nun gib mir mal deine Meinung darüber. Und früher hat der Solist hier tatsächlich improvisiert.

Warum tut er das nicht mehr?

Irgendwann hat jemand zwei oder drei Kadenzen aufgeschrieben, und danach konnte der Solist nur noch zwischen diesen Vorgaben wählen. Vielleicht hat das mit der Erfindung der Wiedergabetechnik zu tun. Früher hörte man ein Musikstück vielleicht einmal in seinem Leben und hatte keine Vergleichsmöglichkeiten. Heute hat das Publikum Aufnahmen zahlloser Kompositionen im Ohr, was für Solisten wie Orchester Stress bedeutet, weil man ständig einem Vergleich ausgesetzt ist. Ein Dirigent traut sich gar nicht, mal etwas anderes zu versuchen.

Sehen Sie Anzeichen dafür, dass sich das wieder ändern könnte?

Durchaus. Ich war Dozent an der Uni Mainz und habe mich mit Musikstudenten auseinandergesetzt, die ihre Instrumente technisch perfekt beherrschten. Sie machten eine klassische Ausbildung, lernten aber auch Improvisation. Jede Musikhochschule hat heute eine Abteilung für Jazz.

Haben Sie jemals erlebt, dass ein Klassik-Solist improvisierte?

Ich habe das selber mal versucht, mit dem Ergebnis, dass mich der Dirigent nach dem Konzert am liebsten umgebracht hätte. Damals war ich 15 Jahre alt und spielte als Solist mit einem Sinfonieorchester. Der Dirigent sagte mir, ich solle mir eine Kadenz aussuchen, und ich bereitete eine vor. Aber je näher der Termin rückte, umso mehr langweilte mich das. Im Konzert spielte ich dann die Kadenz, wie sie auf dem Notenblatt stand, fing dann aber an zu improvisieren. Dem Dirigenten fiel beinahe der Taktstock aus der Hand. Trotz meiner Jugend war ich schon einigermaßen vernünftig und kehrte nach der Improvisation wieder zu den Noten der Kadenz zurück.

Mit klassischer Klassik haben Sie nichts mehr am Hut?

Verglichen mit Jazz erscheint es mir langweilig, ein halbes Jahr lang ein Werk einzuüben und dann genau so zu präsentieren. Es ist mit Jazz nicht zu vergleichen. Aber das nimmt jeder Musiker anders wahr.

Ist das eine Art Ekstase, wenn Sie spielen?

Mehr wie fliegen. Wenn es bei einem Ensemble funktioniert und zwischen den Musikern diese Verbindung entsteht, das ist etwas Besonderes und da überträgt sich auch etwas aufs Publikum.

Gibt es klassische Komponisten, die besonders leicht zu verjazzen sind?

Es gibt welche, die besonders schwer zu verjazzen sind. Ich hatte mir zum Beispiel nie vorstellen können, Mendelssohn-Bartholdy in Angriff zu nehmen. Aber nachdem Will Kauffmann (Betreiber der Kulturfinca, Anm.d.Red.) ihn überraschenderweise in der Ankündigung erwähnte, musste ich das tun. Schwierig, aber es ging. Ich fand ein wundervolles Stück aus seinen ´Liedern ohne Worte´. Mein Gott, ist das schöne Musik!

Flamenco-Elemente kommen wegen Spanien hinein?

Wer in Spanien lebt, kann sich dem Einfluss des Flamenco nur schwer entziehen.

Wie steht es um den Jazz auf Mallorca?

Der Begriff ´Jazz´ wird inzwischen ja sehr inflationär eingesetzt, zum Teil für Konzerte, die mit Jazz gar nichts zu tun haben. Sogar im Jazz Voyeur Festival gibt es Gospel und Ute Lemper. Und wenn ein Dorf drei Konzerte veranstaltet, ist es vielleicht übertrieben, gleich von einem ´Festival´ zu sprechen. Aber ich kritisiere das nur halbherzig, denn wichtig ist, dass in der Szene etwas passiert. Wenn mehr Hote­liers mit einem ´Jazzclub´ Gäste anlocken wollen, wie es das Saratoga in Palma vorgemacht hat, muss man das begrüßen.

Was ist aus Ihren Karibik-Plänen geworden?

Die Reise verlief in umgekehrte Richtung, zurück nach Deutschland. Ich bin mit dem Boot etappenweise quer durch Europas Kanäle und Flüsse nach Berlin gefahren. Dort liegt es nun, dort habe ich auch eine Bleibe gekauft, trete wieder auf und bin – nur in Berlin – wieder ein kleiner Star.

Ihr Segelboot ist mit Klavier und Badewanne ausgestattet. Das klingt exzentrisch.

Das Boot war darauf ausgelegt, sehr lange als Wohnung zu dienen. Die Badewanne ist natürlich nur im Hafen verwendbar. Sie braucht ja unglaublich viel Wasser.

Manfred Kullmann Trio, Sonntag (20.2.), 16 Uhr, Kulturfinca Son Bauló, Lloret, Eintritt: 15 Euro, Tel.: 971-52 42 06.

In der Printausgabe vom 17. Februar (Nummer 563) lesen Sie außerdem:

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