Als Psycholinguistin weiß Dörte Wehmeyer einiges über Obsessionen, und als Künstlerin hat sie die ihren so groß vor die eigene Haustür gebaut, dass nicht nur sie selbst gezwungen ist, sich ihnen zu stellen, sondern auch jeder Besucher.

Das waren bisher eine Menge. Dreimal lud Wehmeyer im Sommer 2010 zu einem öffentlichen Event samt Performance ein, jedes Mal kamen 150 bis 200 Personen, obwohl ihr Parcours aus begehbaren Gedanken fernab in einem Grundstück an der Küste von Santanyí aufgebaut ist.

Am Sonntag (29.5.) stellt sie die zweite Phase ihres Projekts „Spuren/Huellas" vor, das sich über zehn Jahre hinziehen und immer weiter wachsen soll. Obwohl sich manche ihrer Werke an das Konzept der Land Art anpirschen, will Wehmeyer diskret bleiben und nicht in die Landschaft eingreifen. Ein Teil ihrer Ausstellung ist denn auch unterirdisch, und sogar der neue Stein-Tsunami kriecht diskret über eine Mauer, ist erst zu sehen, wenn man davorsteht.

Zehn Jahre sind viel im Leben eines Menschen, aber wenig im Zusammenhang mit jenen Fragen, auf die Wehmeyer Antworten sucht. Es sind große Fragen der Menschheitsgeschichte, die sie auf die kleinste Ebene, die des Einzelnen, hinunterzuziehen versucht.

Die Nazizeit – von der manche ihrer Besucher meinten, man solle sie nun endlich ruhen lassen – ist bei ihr kein geschichtliches, womöglich abzuhakendes Ereignis, sondern setzt sich als „Hakenkreuz im Kopf" in der Aktualität fort, in der täglichen Entscheidung des Einzelnen, Vorurteile entweder zu übernehmen oder sie zu bekämpfen.

Mit Hannah Arendts Begriff der „Banalität des Bösen" betitelt Wehmeyer ein gespenstisches Küchenregal im Freien. Die harmlosen Einweckgläser entpuppen sich als Gefäße, die auf das Unfassbare verweisen. „Auch Folterknechte haben ein Privatleben, kommen abends nach Hause zu ihren Familien und geben ihren Kindern einen Gutenachtkuss." Zur Banalität gesellt sich das Biedere. Weh­meyers Botschaft: Lasst euch nicht einwickeln/einwecken, schaut hinter die Fassaden.

Dass sie nicht als belehrend und besserwisserisch rüberkommt, hat damit zu tun, dass die erste Adressatin all dieser Fragen und Fingerzeige ihre eigene Person ist. „Man muss sich selbst in Frage stellen. Was tue denn ich, wenn eines Abends illegale Immigranten aus Nordafrika vor der Tür stehen? Gebe ich ihnen Unterschlupf oder rufe ich die Polizei?"

Die ehemaligen Betreiberin einer erfolgreichen Beratungsfirma hat ihre Unruhe und ihr Suchen auf eine simple Formel zusammengedampft, an der alles hängt: Die Dinge zu Ende denken.

„Daran fehlt es und es macht mich verrückt", sagt sie. Die Beispiele sprudeln aus ihr heraus. „Als ich in den 70er Jahren aus den USA zurückkam, diskutierte man über Atomenergie. Zum Beispiel darüber, was man mit dem Atommüll anfangen soll." Mehr als 40 Jahre seien ins Land gezogen, reihenweise Atomkraftwerke gebaut worden, „aber dieses Problem ist bis heute nicht zu Ende gedacht."

Der „Stein-Tsunami" ist Wehmeyers Materialisierung des Tsunamis in Japan. Auch die Reaktionen auf diese Katastrophe irritierten sie zutiefst. „Sofort diskutierte man über unsere Atomkraftwerke. Das ist ja wichtig, aber es gibt einen Moment dafür. Unmittelbar nach einer Katastrophe wie der in Japan wäre doch zuerst mal wichtig, den betroffenen Menschen zu helfen."

Welches Echo hat ihre Ausstellung bisher ausgelöst? Umfang und Qualität des Interesses hätten sie verblüfft, bekennt Wehmeyer. „Es hat mir gezeigt, dass auf dieser Insel, die ja für Urlaub und Leichtigkeit und Abschalten steht, viele Menschen bereit sind, sich mit ernsthaften Gedanken zu beschäftigen."

Besonders glücklich war sie über zwei Extreme ihrer Besucherschar: einerseits Kunstexperten, von denen sie großes Lob erhalten habe, und andererseits Menschen, „die sich vorher nie mit zeitgenössischer Kunst auseinandergesetzt haben". Der Lkw-Fahrer, der Kies anliefert, die Reinigungskraft, der Baggerfahrer – „sie sind mit Verwandten gekommen, um sich das anzusehen und zu verstehen." Allmählich, sagt Wehmeyer in diesem Zusammenhang, käme auch auf Mallorca eine offenere Debatte über die Franco-Zeit in Gang. Genau diese Bereitschaft, sich unangenehmen Fragen zu stellen, ist ihr Ziel.

Nicht alle waren begeistert. Der Plan, mit Stahlplatten ein begehbares Hakenkreuz zu bauen, stieß beim Betriebsrat der deutschen Lieferfirma auf Widerstand. Wehmeyer lenkte ein, unter anderem, weil sie – als sie ihr Vorhaben zu Ende dachte – mit Schrecken erkannte, dass das Hakenkreuz in Google Earth erkennbar gewesen wäre. Internet-Nutzer hätten ihr Grundstück wahrscheinlich als Nazi-Nest gebrandmarkt.

Dabei geht es Wehmeyer immer um das Vergegenwärtigen und Verstehen der Vergangenheit als Werkzeug zum Verstehen der Gegenwart, als Schutzwall gegen die ewig selben Fallstricke des Denkens. Und um die Folgen und Wirkungen, die alles hat.

Die laxe Verfolgung der Kriegsverbrechers bringt sie in direkten Zusammenhang mit dem für sie nicht mehr nachvollziehbaren Täterschutz, der in unserer Gesellschaft Vorrang vor dem Opferschutz stehe. „Ein Erbe der Denke derselben Juristen, die Nazi-­Verbrecher laufen ließen."

Und was das Hakenkreuz betrifft: Im neu konzipierten Gebilde muss man nur ein paar Stahl- und Steinplatten verrücken und schon wäre es wieder da. Somit entstand ein noch subtileres Werk: Zum überwunden geglaubten Grauen ist es nur ein kleiner Schritt.

„Spuren/Huellas 2011", Eröffnung am Sonntag (29.5.), 11 - 15 Uhr, C´an Blau, Cala Llombards, Te. 661-80 02 62. Weitere Termine: 12.6. und 2.10. Ansonsten nach telefonischer Vereinbarung.

www.doertewehmeyer.com

In der Printausgabe vom 19. Mai (Nummer 576) lesen Sie außerdem:

- Kurt Seibels Stahlskulpturen in Cala Murada

- Inselliteratur: Steve Kellers Roman "Papa ante Palma"

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