Am klarsten drückte sich Jordi Gracia aus: Ein Historiker oder Biograf könne sich noch so sehr an die überlieferten Fakten halten – wenn sein Buch mehr sein wolle als eine bloße Aufzählung derselben, betrete der Verfasser irgendwann unweigerlich das Terrain der Fiktion. Der Schriftsteller Fernando Aramburu bescheinigte diesem Genre, uns noch am ehesten eine Vorstellung darüber zu vermitteln, wie Menschen an anderen Orten in anderen Zeiten gelebt hätten. Und der Diplomat und Autor Jorge Edwards erklärte: „Das Abenteuer des Schreibens von Geschichte oder Fiktion ist im Grunde dasselbe – ein Abenteuer der Sprache."

Die vierten Literaturgespräche von 16. bis 18.9. im Hotel ­Barceló Formentor handelten von der „Zukunft des Romans" und dem Spannungsfeld zwischen Realität und Fiktion. Die abschließende Podiumsdiskussion am Sonntag kam zu dem Schluss: Realität und Fiktion nähren einander, und der Roman ist eine Quelle der Wahrheit, sofern der Autor fähig sei.

Von den Anwesenden konnte man das behaupten. Edwards, der heute als chilenischer Botschafter in Paris amtiert, erhielt für sein Schaffen unter anderem den Cervantes-Preis. In seinem bekanntesten Buch „Persona non grata" erzählt er eine wahre Geschichte als Roman: Wie er als Berufsdiplomat nach Havanna geschickt wurde, um dort eine chilenische Botschaft aufzubauen. Ein perfektes Beispiel für die Möglichkeiten des Romans, Realität zu vermitteln. Edwards erzählte, er habe geahnt, dass seine Mission in Kuba Stoff für eine Erzählung abgeben würde, und seine Erlebnisse von Anfang an in einem Heft festgehalten. Dieses Heft wurde selbst zum Akteur in seiner Geschichte, denn die kubanische Geheimpolizei interessierte sich für die Notizen des Diplomaten.

„Als ich von einer Universität eingeladen wurde, einen Vortrag darüber zu halten, wie man mit den Mitteln der Fiktion ein Sachbuch schreibt", sagte Edwards. „hat mich die Themenstellung nachdenklich gemacht. Ich denke bis heute darüber nach." Die ­Lücken der Geschichte seien es, die erlauben und erfordern, auf das Werkzeug der Fiktion zurückzugreifen. Der Literaturexperte Gracia erläuterte dasselbe anhand seines biografischen Essays über Dionisio Ridruejo, Francos Propagandachef im Bürgerkrieg, „ein absoluter Faschist, der später zum Franco-Gegner wurde. Ich habe die komplette Dokumentation – Briefe, Artikel, Protokolle, Aufzeichnungen –, und somit die faktische Seite abgedeckt. Aber was in dem Mann vorgegangen ist, der einen so radikalen Sinneswandel vollzogen hat, ist mit einer rein faktischen Behandlung nicht zu ergründen."

Was die Zukunft des Genres betraf, so verwies Edwards darauf, dass der Roman um 1860 herum zum ersten Mal totgesagt worden sei. „Wir könnten also sagen, dass es sich um einen Toten mit exzellenter Gesundheit handelt." Gracia sekundierte mit einer Perspektive, die dem allgemeinen, vom ­Moderator und Direktor der mitveranstaltenden Santillana-Stiftung Basilio Baltasar angeführten Jammerchor über den Niedergang der Literatur widersprach. „Heute geschieht etwas sehr Merkwürdiges: In die Bestseller-Listen schmuggeln sich gute Bücher."

Großer Jubel sei nicht angebracht, aber „ich kann Ihnen versichern, dass in den 60er Jahfren kein einziger Bestseller ein Qualitätsbuch war." Dass dies heute anders sei, habe man nicht zuletzt den lateinamerikanischen Autoren zu verdanken, die den Lesern gezeigt hätten, welche Möglichkeiten das Genre bietet.

Einen sehr humanen Aspekt brachte der Baske Aramburu ein: In seiner Jugend drohte er in die radikale und gewaltbereite Nationalistenszene abzurutschen. „Das Lesen hat mich davor bewahrt, weil mich gute Bücher gelehrt haben, auch andere Realitäten und Standpunkte zu verstehen."

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