Carme Castells denkt und liest gerne. Deshalb hat die Leiterin der Stiftung Dichterhäuser auch den perfekten Job. Ihr Büro ist in Binissalem, dort, wo einst Llorenç Villalonga (1897-1980), Psychiater und Schriftsteller aus Palma, die Sommer verbrachte. Auch die Dauerausstellung zu Blai Bonet (1926-1997) im Kulturzentrum Ses Cases Noves von Santanyí und das Geburtshaus von Rafel Ginard (1899-1976) in Sant Joan verwaltet sie. Die drei Autoren stehen für das literarische Mallorca des 20. Jahrhunderts. Ihr Erbe wollte die Literaturwissenschaftlerin wahren. Als sie vor sieben Jahren in Binissalem anfing, brachte sie Leben in die alten Gemäuer. Castells stellte ein umfangreiches Kulturprogramm für Kinder und Erwachsene auf die Beine, inklusive Weinverkostungen, Lesungen und Führungen in mehreren Sprachen.

Das alleine reicht ihr jetzt nicht mehr. Ab sofort gibt es „Walking on Words". Das Projekt hat sie sich ausgedacht: Sieben Literatur-­Routen in vier Sprachen führen quer über die Insel. 72 literarische Zitate kann man dabei mit dem Handy am Ort ihres Geschehens hören (und lesen). „Wir haben eine Möglichkeit gesucht, Mallorcas immaterielles Kulturerbe bekannter zu machen", sagt Castells.

„Wandeln auf Wörtern" richtet sich an Kulturtouristen und Einheimische, die die Insel neu kennenlernen wollen. Das Abenteuer steckt freilich weniger in der Entdeckung von Örtlichkeiten - immerhin fährt oder geht man dorthin, wo vor einem schon andere waren. Es geht vielmehr um einen neuen Blick auf Orte wie die Römerstadt Pol·lentia, den Hafen von Portocolom oder den Marktplatz von Sóller - und natürlich um die Freude an der Literatur. Das Projekt hat Perlen wie die folgende ans Tageslicht geholt, verfasst 1938:

Der Himmel mischt Geheimes / Murmeln von Mandarine. / Und die Ströme des Windes verbreiten Orangeaden // Ich koste Gärten

„Sóller. Imitació del foc." Bartomeu Rosselló Porcel (1913-1938)

Von allen Künsten ist die Literatur wohl die schwierigste in der Vermittlung, denn sie ist an Sprache gebunden und braucht ein Publikum, das sich Zeit nimmt. „Die allermeisten Werke, aus denen wir zitieren, waren gar nicht oder nur in eine Sprache übersetzt", erzählt Castells. Die Mehrheit der 49 zitierten Autoren sind Mallorquiner, aber auch Jules Verne, Robert Graves, Anaïs Nin oder Julio Cortázar gehören zur Auswahl. Carme Castells und ihre Mitarbeiterinnen Francisca Niell und Joana Maria Serra haben die Zitate zusammengetragen. „Die meisten Texte kannten wir schon", erzählt Castells, „wir musste sie nur noch nach der geeigneten Stelle durchsuchen."

Wer sich auf die Reise begeben will, braucht ein Smartphone (demnächst soll es in den erwähnten Dichterhäusern auch Tablets zum Ausleihen geben). Die Routen sind mit dem Auto jeweils an einem ­halben Tag gut zu erledigen. Sie starten in Binissalem, Palma, Sant Joan, Manacor, Santanyí, Deià und Pollença und sind thematisch angelegt. „Jede Route hat einen eigenen Charakter, den die Landschaft und die Texte vorgeben", sagt Castells. In und um Deià wimmelt es von Zitaten internationaler Autoren (Route Nummer zwei, „Entdecktes Land"):

Bei meiner Rückkehr ins Dorf musste ich eine ganze Reihe von Männer- und Frauenwangen beidseitig küssen, und Tränen wurden ver­gossen wie bei meiner Abfahrt. Obwohl ich inzwischen verheiratet war und drei kleine Kinder hatte, war es als ob ich nur ein paar Wochen weg ge­wesen wäre, dagegen sprachen nur die Größe des Tangerinenbaums und die gesprossenen Mispelkerne.

„Majorca Observed", 1964. Robert Graves (1895-1985)

Vor einigen Jahren ging eines Abends die Tochter eines Fischers am Meer entlang. Sie sprang von Stein zu Stein, wobei sie ihr weißes Kleid eng am Körper zusammenhielt. Während sie so ging, träumte und den Glanz des Mondes auf dem Meer beobachtete und das Wasser mit sanften Wellen ihre Füße umspülte, kam sie zu einer verborgenen Höhle, in der, wie sie bemerkte, jemand schwamm ...

„Mallorca. Das Delta der Venus", 1977. Anaïs Nin (1903-1977)

In Manacor geht es dagegen eher ums Innenleben - der Autoren und der Insel:

Die Stadt versinkt in den Regengüssen des Winters und seitdem du nicht mehr da bist, haben die Straßen und Plätze ihre Namen verloren.

„Sonets a Eurídice", 1967. Jaume Vidal Alcover (1923-1992)

Es wird hell / einer hinter dem anderen / gehen die Hähne an / und die Grillen aus. / ­Eine ­hinter der anderen / lodern die Kerzen / über dem Altar auf. / Einer hinter dem anderen / gehen die Alten / in die Frühmesse

„Paisatges. Tampoc el foc", 1995. Guillem d´Efak (1929-1995)

Wichtigstes Hilfsmittel bei der Erkundung des alten, verloren gegangenen oder auch verklärten Mallorca ist die kostenlose App „WOW" (für Android und Apple-Handys). Sie ist mit GPS und iBeacon-Technologie ausgestattet und wurde von dem mallorquinischen Studio Slinger in Inca entwickelt. iBeacon basiert auf Bluetooth-Funktechnik und funktioniert nach dem Sender-Empfänger-Prinzip. Die Technologie kommt ohne Internet aus und verbraucht keine Handydaten. Die Routen sind also auch mit Handys eines ausländischen Anbieters und in Netzlöchern operativ. Steht man beispielsweise am Strand von s´Amarador an der Südküste, empfängt das Handy die Signale eines der 72 auf Mallorca verteilten Aluminiumpfosten, den eigentlichen Stationen. Das entsprechende Zitat der fünften Route „Salz aus blauem Meer. Rote Erde" wird dort aktiviert: Auf dem Bildschirm erscheint das untertitelte Video einer Person, die an Ort und Stelle Folgendes rezitiert:

Ich war ein Kind des Krieges, ein Kind der Dornen, das entlang dem Meer von Montdragó Stacheldraht im Herzen trug.

„El mar de Montdragó". Comèdia, 1960. Blai Bonet (1926-1997)

Gelesen werden die Texte immer im Original und immer von Muttersprachlern. Im Fall von Jaume Alcover oder Guillem d´Efak also auf Mallorquinisch, bei Anaïs Nin oder Robert Graves auf Englisch. „Der Klang der Originalsprache war uns ganz wichtig", sagt Castells. Von jedem Text gibt es Übersetzungen ins Englische, Deutsche, Katalanische und Spanische. Die mallorquinischen Texte lesen Menschen, die zu den Verfassern oder zu den Orten einen besonderen Bezug haben, selbst kulturell aktiv und inselweit bekannt sind (die Schriftsteller Biel Mesquida und Gabriel Janer oder die Sängerin Maria del Mar Bonet).

Die Reise durch Mallorcas Literatur­schatz funktioniert nur in Verbindung mit einer räumlichen Reise. Auf dem Sofa geht es nicht. „Man muss schon hinfahren, um zu hören, was geschehen ist", sagt Castells lachend, zum Beispiel mit Mr. Parker an Pollenças Seepromenade (vierte Route „Mein Gebirge, meine Wonne, mein Licht"). Der Held aus Agatha Christies Krimi „The Regatta Mystery and Other Stories" steigt im Hotel

Pino d´Or ab:

Man konnte am Meer entlang bis zum Fischerdorf gehen, wo es eine Cocktailbar gab - ein beliebter Treffpunkt - und ein paar Geschäfte. Alles war äußerst friedlich und angenehm. Mädchen liefen in Hosen herum, leuchtend bunte Halstücher um ihre Oberkörper gewickelt.

„The Regatta Mystery and Other Stories", 1932. Agatha Christie (1891-1976)

Die Idee und ihre Umsetzung rufen schon jetzt allseits Begeisterung hervor, zum Beispiel bei den Bürgermeistern der zitierten Gemeinden. Steht man erst einmal in Campanet oder Sant Elm, bietet die App auch noch Hinweise zu besuchenswerten Stätten und Einkehrmöglichkeiten dort. Zwei Jahre bastelten das Team der Stiftung Dichterhäuser, Location Scouts, Fotografen, Designer, Übersetzer und Informatiker daran. Herausgekommen ist ein zeitgemäßes und kreatives Programm, das vordergründig das vielgenutzte Schlagwort Saisonverlängerung umsetzt. Eigentlich verführt es uns aber zum Lesen und Denken. Wer war eigentlich dieser Bartomeu Rosselló Porcel, der 1938 auf dem Marktplatz von Sóller saß und dabei an murmelnde Mandarinen dachte?