Manch ein Urlauber schaut verdutzt, wenn beim mallorquinischen Dorffest plötzlich der Dudelsack aufspielt - schließlich verortet der musikalische Laie das Blasinstrument doch eher in den kräftigen Händen rocktragender Schotten. Doch nicht nur auf der Insel hat die xeremía, so der mallorquinische Begriff, eine lange Tradition, wie Manfred Stingel weiß. Der Gründer und Leiter des „Haus der Volkskunst" im baden-­württembergischen Balingen ist kaum mehr zu bremsen, wenn er auf die schwäbische Sackpfeife angesprochen wird. Kein Wunder, schließlich beschäftigt sich der 70-Jährige seit 1985 mit dem Instrument: Damals las er bei der Recherche über die Geschichte des schwäbischen Volkstanzes zufällig auch über die Sackpfeifen.

Seitdem hat sich Stingel zu einem wahren Dudelsack-Experten entwickelt, 1997 das erste Sackpfeifen-Festival in Balingen ins Leben gerufen, das sich zu einem der größten und wichtigsten in Europa entwickelt hat - und dabei auch Kontakte nach Mallorca geknüpft: 2006 war erstmals eine Gruppe der Xeremiers de Sóller beim Festival in Deutschland zu Gast. Und in ihren traditionellen mallorquinischen Trachten natürlich gleich auch ein echter Hingucker.

Profi Stingel konzentrierte sich hingegen auf die Instrumente selbst: „Das sind sehr lustige Dudelsäcke, bei denen vorne die Bordunpfeife mitschwingt €". Diese Pfeife, auch Brummer genannt, erzeugt den charakteristischen Dauerton, der letztlich auch den Erfolg des Instrumentes in unseren Breiten ausmachte. Denn erfunden wurde der Dudelsack ganz woanders: „Er kam vermutlich über Kleinasien nach Europa", so Stingel. Erste Bildquellen, die in Schwaben gefunden wurden, können auf das 14. Jahrhundert zurückdatiert werden. Kurioserweise wurde der Dudelsack auf Gemälden in Kirchen zur Darstellung der Sünde herangezogen: „Männer und Frauen kamen sich beim Tanzen zur Dudelsackmusik näher, das war natürlich gar nicht gern gesehen", so Stingel.

Das Instrument muss die Bevölkerung von damals schwer beeindruckt haben. In jener Zeit gab es allenfalls Glocken, deren Töne schnell wieder verklangen, oder Flöten, die auch nur dann einen Ton erzeugten, wenn man hineinblies. „Der Dauerton des Dudelsacks faszinierte die Menschen, die Musikanten konnten so viel längere Lieder spielen und währenddessen sogar noch singen", erklärt Stingel.

Wie wohl auch auf der Insel galt der Dudelsack vor allem als Hirten­instrument - Stingel wartet mit einem Zitat aus dem Jahr 1732 auf, das den Schäfern den Dudelsack sinngemäß als „eigene Musik" zuspricht. Die sich zudem positiv auf die Tiere auswirke: Die derart musikalisch unterhaltenen Schafe würden nicht nur besser fressen, sondern seien auch (woll-)„lüstiger" als andere, heißt es weiter. Doch trotz dieser heute in gewissen Kreisen wieder als fortschrittlich geltenden Erkenntnisse geriet der Dudelsack in Vergessenheit - in Schwaben sei der letzte wohl so um 1900 erklungen, schätzt Stingel. Dazu beigetragen habe vermutlich auch die Erfindung eines anderen Instruments: des Akkordeons, das sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Platz unter Musikfreunden eroberte. Um der „Quetschkommode" Melodien zu entlocken, musste man laut Stingel nämlich kein Künstler sein, während das Spielen des Dudelsacks deutlich komplizierter sei.

Während die Spielpfeife in Mitteleuropa bald kaum mehr eine Rolle spielte, konnte sie sich in Schottland behaupten - und zwar vor allem wegen ihrer Bedeutung als Militärinstrument. Genau so würden die schottischen Dudelsäcke auch klingen, sagt der Experte: Der laute und kräftige Ton sei durchaus auch als Mittel der taktischen Kriegsführung eingesetzt worden. „In Zeiten, in denen es noch keine Verstärker gab, muss es ganz schön erschreckend gewirkt haben, wenn plötzlich 300 Leute gleichzeitig loslegten."

Die schwäbische Sackpfeife hingegen habe einen viel weicheren Klang, „eben unserer Mentalität entsprechend", meint Stingel, und verweist auf fast schon Fado-ähnliche, schwermütige Volksweisen - zu denen es sich gut tanzen lässt.

Begleitet wird die Sack­pfeife in Schwaben von Streichern wie Geigen und Kontrabass sowie Schalmei, Gitarre und Harfe, wie der Tanzleiter der Volkstanzgruppe Frommern, Hans Georg Zimmermann, erklärt. Und dies sei nur einer der Unterschiede zu den mallorquinischen xeremiers. Die sehr hell und durchdringend klingende Insel-­Version des Dudelsacks werde deutlich temperamentvoller gespielt als ihr schwäbisches Pendant - und meist nur von Einhand-Flöte und Trommeln begleitet.

Das Grundprinzip aber ist bei beiden Instrumenten gleich: Der aus Leder - Stingel schwört auf Ziege - genähte Sack wird durch Pumpen oder Blasen mit Luft gefüllt, durch gleichmäßigen Druck auf den Sack erzeugt der Bordun den berühmten Dauerton. Gleichzeitig lässt der Musikant mit den Spielpfeifen eine Melodie erklingen. Das erfordert zwar eine gewissen Geschicklichkeit, doch nach einem zweitägigen Anfängerseminar etwa im „Haus der Volkskunst" sei man durchaus in der Lage, eine einfache Melodie zu spielen, so Stingel, der gerade den 50. Geburtstag der von ihm gegründeten Volkstanzgruppe Frommern feiert.

Bei dem Festival in Sóller ist mit einer Gruppe von rund zwölf Mitgliedern nur eine kleine Abordnung aus Balingen mit dabei - dafür bringen die Mitglieder aber den optisch besonders reizvollen Böhmischen Bock mit, der mit geschnitztem Ziegen­kopf und einen -horn als Schallkörper daherkommt.

Während Manfred Stingel am Wochenende in Japan weilt und seine Musikanten und Tänzer alleine auf die Insel schickt - „die jungen Leute müssen auch mal ohne mich klarkommen", lacht er am Telefon -, reist sein Neffe Hans Georg Zimmermann mit nach Mallorca. Es ist der erste Insel-Besuch, dem Austausch der Volkskultur sei Dank.

I Festival Internacional de Xeremies, 26.-28. Juni, Sóller. Programm auf Facebook: Xeremiers de Sóller

Im E-Paper sowie in der Printausgabe vom 25. Juni (Nummer 790) lesen Sie außerdem:

- Gefangen in der Funktionshölle: PalmaPhoto und das Thema Stadt

- Fotosammler Dietmar Siegert und seine Stillleben in Palma

- Serra-Ausstellung im CaixaForum

-