In den frühen Morgenstunden kommt endlich der Hafen von Palma in Sicht. Das kleine Mädchen, Marianne Orsinger, steht an der Reling und beobachtet diese Insel, die von nun an ihre Heimat sein soll. Es ist das Jahr 1933. Ihr Vater war schon einige Monate zuvor hergekommen. Ein Arzt hatte dem passionierten Fotografen geraten, aus Freiburg in ein anderes Klima zu ziehen. Auf einem Fotografen-Treffen hatte er Bilder von Mallorca gesehen und beschlossen, dass dies der richtige Ort für seine Familie sei. Dass seine Frau eine zum Christentum übergetretene Jüdin ist, war zu diesem Zeitpunkt, Ende 1933, für die Orsingers offenbar noch nicht so relevant.

Von dieser Familiengeschichte erzählt die Graphic Novel „Tante Wussi", die jetzt im Verlag Astiberri erschienen ist. Geschrieben und illustriert hat sie das in Barcelona lebende Paar Tyto Alba und Katrin Bacher. Es ist die Geschichte von Bachers Großtante, Tante Wussi genannt, die in dem wunderbar gezeichneten Buch aufgearbeitet wird. Und die Geschichte ihrer Familie, die in den Kriegsjahren zwischen Mallorca und Deutschland hin- und hergerissen wird.

Im vergangenen Jahr haben Bacher und Alba den Preis der Stadt Palma für ihr Projekt bekommen. Sie hatten 16 Seiten des Werkes als Bewerbung eingereicht. „Eigentlich war es Zufall, dass wir uns beworben haben", sagt Alba. Für den Sieg gab es 10.000 Euro und die Veröffentlichung des Buches. Für Bacher ist es das erste Projekt dieser Art. Die 37-Jährige arbeitet als Übersetzerin in Barcelona. Ihr Partner Alba ist seit Jahren Autor von Comics und Graphic Novels. „Es war eine gute Gelegenheit, einmal gemeinsam zu arbeiten", sagt Bacher.

Der Vater in „Tante Wussi", Bachers Urgroßvater, baut auf Mallorca ein Fotostudio auf, dass langsam aber sicher mit Postkarten, Familien­porträts und der Entwicklung von Fotos ins Geschäft kommt. Die Kinder jagen im Wald von Bellver Schmetterlinge für die Sammlung des Vaters, im Teatre Principal in Palma laufen einmal die Woche deutsche Filme, und die Familie macht Ausflüge an Strände und Berge, um die schönsten Mallorca-Motive für die ­Postkarten ­einzufangen. Es ist ein schlichtes, aber idyllisches Leben, dass die Familie wenige Jahre auf Mallorca genießen kann. Bis 1936 der Spanische Bürgerkrieg ausbricht.

Hier wie auch an anderen Stellen des Buches hält die Erzählung inne, um historische Zusammenhänge zu erklären, etwa den von den Todesschwadronen des italienischen Faschisten Conde Rossi auf Mallorca ­verbreiteten Schrecken. An anderen Stellen werden die Nürnberger Rassengesetze oder die Geschichte der Juden und ihrer Zwangskonvertierung auf Mallorca erläutert.

Als republikanische Bomben auf Palma fallen, bittet der Vater den deutschen Konsul Hans Dede um Rat: Der NS-Diplomat empfiehlt dem Fotografen, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen, in Deutschland habe sie nicht viel zu befürchten. Tatsächlich kehrt die Mutter zusammen mit den drei jüngsten Kindern, darunter auch Wussi, nach Deutschland zurück. Die meisten Ausländer haben die Insel ohnehin schon verlassen.

Es ist die Flucht vor einem Krieg in einen neuen Krieg. Von da an spielt der Comic wieder in der Heimat, erzählt von den Repressalien, denen die Familie ausgesetzt ist. Von ­Verwandten, die im KZ landen, vom Tod eines Onkels an der Front und auch von dem Tag, als Wussi aus dem Internat geworfen wird, weil sie jüdischer Abstammung ist. Der Vater und die zwei älteren Schwestern bleiben den Krieg über auf Mallorca. Das Kindermädchen und die jüngste Schwester kehren noch während des Krieges nach Mallorca zurück, Marianne und die Mutter erst nach 1945. Tante Wussi heiratet schließlich Pep, einen Mallorquiner, und zieht nach Bunyola.

Die Erzählungen aus jener Zeit hätten sie schon als Kind fasziniert, als sie mit der Familie ab und zu auf Mallorca im Urlaub waren, sagt Bacher. Aber erst als sie Jahre später in Barcelona studierte, habe sie die Gelegenheit gehabt, häufiger nach Mallorca zu kommen und die Großtante zu befragen. „Ich hatte das Glück, dass sie sich noch an relativ viele Details erinnerte." Neben diesen, in dem Band ebenfalls bebilderten Gesprächen, haben Bacher und Alba auch in den Stadtarchiven in Palma und in Bachers Heimatstadt Karlsruhe recherchiert oder sind nach Hausen im Tal gefahren, wo Tante Wussi während des Krieges bei einem Bruder des Vaters, einem katholischen Priester, Unterschlupf fand. Zudem kam für den Zeichner Alba das Glück eines großen Bildarchivs hinzu. Einige der Fotografien sind im Buch ­zu sehen.

„Ich habe mich dafür entschieden, mehr Farben als sonst zu verwenden und einen weicheren Zeichenstrich", sagt Alba. „Das Buch erzählt die Geschichte aus der Perspektive eines Mädchens, das die Welt anders wahrnimmt, als die Erwachsenen zu jener Zeit." Der etwas fröhlichere Stil solle einen Kontrast zu den Schrecken jener Jahre darstellen, einem Schrecken, der manche Seiten dann dennoch ganz in Schwarz taucht.

Alba und Bacher betonen, die Geschichte sei nur eine von vielen aus einer Zeit, in der auch viele andere Deutsche auf Mallorca unter Krieg und Verfolgung zu leiden hatten. Eben weil sie so persönlich erzählt, so genau dokumentiert und so reflektiert illustriert ist - das Buch endet mit Bezügen auf die Gegenwart, etwa den Hass, der bei Pegida-Umzügen geschürt wird - ist sie umso eindrücklicher. „Tante Wussi" ist auf Katalanisch und auf Spanisch erschienen. „Im Moment sind wir auf der Suche nach einem Verlag, der das Buch auf Deutsch herausbringt", sagt Bacher. „Es gibt schon ein paar Interessenten, aber es ist ein langer Prozess."

Katrin Bacher, Tyto Alba: „Tante Wussi", Verlag Astiberri, 16 Euro.