Adam Zagajewski lehnt sich an der steinernen Bank im Eingangsbereich des Estudi General Lul.lià zurück. „Kennen Sie das, wenn Sie gut gegessen haben, aber zu viel? Und dann hasst man sich selbst, weil man so voll ist?" Der polnische Akzent legt sein Deutsch wie in Watte. Es ist bereits Nachmittag, fast schon früher Abend, und der Dichter kommt von einem Mittagessen mit einem reichen Sponsor des Projekts „Habitació 2016". Im Rahmen der ersten Ausgabe dieses kulturellen Austauschprogramms hat der 71-Jährige den MonatSeptember auf Mallorca, in einem Hotel Son Jaumell in Capdepera, verbracht. Morgens, erzählt er, habe er gearbeitet, nachmittags habe er Ausflüge gemacht oder sei an den Strand gegangen.Ziel dieser ersten Ausgabe von „Habitació" - eines Programms der Balearen-Uni und des katalanischen Pen-Clubs, ist es, einen Austausch zwischen Kultur und Tourismus zu schaffen. Und den Mallorquinern die Möglichkeit zu geben, den „bedeutendsten Lyriker Polens" („FAZ") auf verschiedenen Lesungen kennenzulernen. Zagajewski wird auch immer wieder als Kandidat für den Nobelpreis für Literatur genannt. Viele seiner Bücher und Gedichtbände sind auch auf Deutsch erschienen, zuletzt „Unsichtbare Hand" und „Die kleine Ewigkeit der Kunst: Tagebuch ohne Datum".

Als Sie Anfang des Monats der Presse vorgestellt wurden, drückten Sie die Sorge aus, dass ein Dichter in einem guten Hotel nicht zum Arbeiten kommen würde.

Nun, zu meiner Freude hat sich herausgestellt, dass es doch ganz gut klappt. Aber ich glaube, ich könne nicht ständig unter so üppigen Bedingungen zu leben. Ich bin da ein wenig asketisch, auch wenn meine Frau immer lacht, wenn ich das sage. Aber das ist auf keinen Fall ein Vorwurf an die Veranstalter, das versteht sich von selbst. Das wäre ja idiotisch. Ich habe meine Zeit hier sehr genossen, vor allem das Licht ist unvergleichlich auf der Insel.

Bei „Habitació 2016" geht es um Kultur und Tourismus. Da Sie die Kultur vertreten - wie haben Sie den Tourismus wahrgenommen?

Der Tourismus auf Mallorca ist nicht anders als auf Kreta oder Sizilien. Ich erachte es als problematisch, wenn es beispielsweise in der Nähe von Capdepera Siedlungen gibt, die nur für den Tourismus geschaffen sind. Sie sind künstlich, man spürt dort nicht das Leben wie etwa in Artà oder Capdepera, wo man alte Menschen und Kinder, Hunde und Katzen auf der Straße sieht, wo sich das ganze Arsenal des menschlichen Lebens zeigt. Aber das kann man den Besuchern nicht vorwerfen. Wenn man denkt, dass man selbst kein Tourist ist, sondern etwas Besseres, dann steckt Arroganz dahinter.

Für viele Menschen ist Mallorca ein Zufluchtsort, an dem sie ein wenig aus der realen Welt ausbrechen können. Haben Sie das auch so empfunden?

Nein, man kann nicht aus der realen Welt flüchten. Ich habe ja auch hier Internet und lese jeden Morgen, was in Aleppo vor sich geht. Das kann man nicht vergessen. Man sollte es auch nicht vergessen. Denn wir baden hier, wir essen, wir trinken Wein. Und in Aleppo werden Menschen ermordet. Diese Gleichzeitigkeit ist nur schwer zu ertragen. Es ist sehr schwer, etwas zu tun für diese Menschen, aber man sollte es wenigstens wissen. Und man sollte versuchen zu helfen. Und ich kann genauso wenig etwas dafür wie Sie. Aber ich leide sehr

darunter.

Kann die Poesie helfen?

Nein, die Lyrik kann nicht helfen. Um es symbolisch zu sagen: Die Poesie ist etwas für Leute, die nicht in Aleppo sind. Sie ist für Menschen, die eine gewisse Sicherheit genießen. So war es schon immer.

Gleichzeitig gibt es viel Lyrik, die den Menschen in schwierigen Lebenssituationen Hoffnung machen soll.

In der Tat, dafür gibt es viele Beispiele. Etwa bei Menschen, die im Gefängnis oder im Arbeitslager waren. Jene, die sehr belesen waren und für sich selbst Gedichte rezitiert haben. Das ist ein radikales Beispiel, wie Poesie helfen kann. Aber wenn die Schlacht tobt und die Bomben fallen, kann man mit Poesie wenig anfangen.

Ist Lyrik demnach ein Luxus?

Nein, sie ist genauso wenig Luxus wie das Wasser ein Luxus ist. Aber man ist nur menschlich, wenn man unter menschlichen Bedingungen ist. Und dazu gehört auch die Lyrik. Das Beispiel mit dem Gefängnis ist nur eine Ausnahme.

In Ihrer Arbeit spielt die Erinnerung eine wichtige Rolle. Wenn Sie beobachten, was in Ihrem Heimatland vor sich geht oder was populistische Politiker in den USA, Deutschland und Frankreich von sich geben: Sind wir gerade dabei zu vergessen, was im 20. Jahrhundert geschehen ist?

Nein, die Erinnerung mag geschwächt sein, aber verschwinden wird sie nicht. In meinem Heimatland gibt es zudem den Sonderfall der historischen Politik, bei der den Menschen aus nationalistischen Gründen gesagt wird, an was sie sich erinnern sollen. Aber Amnesie? Nein, wir leben in einer Zeit des Gedächtnisses. Aber die Politik sollte das Gedächtnis nicht kontrollieren wollen.

Sind Sie in Sorge?

Ich mag diese Politik nicht. In Polen ist zwar keine faschistische Regierung an der Macht, aber die katholisch-nationalistische Richtung macht mich nervös. Und ich bin selbst Katholik, aber das hat für mich etwas mit der Seele zu tun und nicht mit der Nation.

Was bedeutet für Sie der Umstand, Katholik zu sein?

Ich bin ein schlechter Katholik. Ich gehe nicht in die Kirche, aber ich bin ein religiöser Mensch. Ich glaube an die Transzendenz.

Beeinflusst das Ihre Arbeit?

Was man in der Literatur religiös nennt, meint immer das Suchen, nie das Finden. Mich interessiert nur das Suchen. Ein Priester muss immer sagen: Ich habe es gefunden. Ein Dichter muss das nicht, auch kein katholischer. Ich sehe mich ohnehin eher als religiöser Mensch, der Gedichte schreibt. Und ich will nicht finden. Moment, das stimmt nicht: Vielleicht möchte ich finden, aber bisher habe ich es nicht gemacht.

Wissen Sie, wonach Sie suchen?

Nun, ich möchte die Transzendenz erblicken, sie erleben. Und es gibt diese Momente der Meditation. Aber nein, ich weiß nicht genau, was ich suche.