Während im Dezember überall auf Mallorca die villancicos genannten fröhlichen Weihnachts­lieder erklingen, wird es zu Heiligabend ernst. Zur Mitternachtsmesse erklingen in der Kathedrale La Seu schaurige Töne: Mit einem Schwert in den Händen besingt eine junge Frau in acht Strophen das Ende der Welt und die Wiederkunft des Erlösers.

Die Figur der Sibylle verweist auf griechische Seherinnen. Ihr Gesang - „El Cant de la Sibil.la" - geht als eine der ältesten religiösen Traditionen im Mittelmeerraum womöglich bis auf die Weltuntergangspanik im Jahr 999 zurück. Die düsteren, aber sehr beliebten Prophezeiungen über das bevorstehende Jüngste Gericht wurden dann über Jahrhunderte in Theaterstücken in den Gotteshäusern inszeniert - bis es den Kirchenoberen zu viel des Spektakels wurde.

Sibyllengesang: Termine auf Mallorca (Auswahl)

Sie beschlossen zunächst, den damals noch von Männern dargebotenen Sibyllengesang an hohen Festtagen in die Liturgie zu integrieren, und verbannten ihn später ganz aus dem Gottesdienst. Auf dem spanischen Festland wurde das Sibyllenlied 1899 zum letzten Mal bei einer Messe dargeboten. Auf Mallorca hingegen, wohin die Tradition 1229 mit den katalanischen Eroberern gekommen war, stellte man ebenso wie auf Sardinien auf Durchzug.

Dem ist zu verdanken, dass der Sibyllengesang 2010 zum Welterbe der Unesco erklärt werden konnte und dass er in der Christmette in vielen mallorquinischen Kirchen, allen voran in der Kathedrale, bis heute erklingt.