Eigentlich ein Wunder, dass er noch arbeitet, mit seinen 92 Jahren. Die Zahl wird absurd, wenn man neben ihm steht: ein sehr großer, aufrecht gehender Mann, der mit fester Stimme über seine abstrakte Kunst spricht. Sicherheit strahlte Bechtold immer aus, auch Unruhe und Neugierde, und geistige Spannkraft. Davon hat er nichts verloren.

Bei dem 1925 in Köln geborenen Künstler sind alles Superlative: Seit mehr als 60 Jahren, sechzig, macht er Kunst. Fast ebenso lang lebt er auf Ibiza. Er zog dort im Jahr 1958 hin. Wie war wohl Ibiza im Jahr 58? Und etwa genauso lang ist er mit seiner deutschen Frau Christina verheiratet, die er in Barcelona kennengelernt hat und in den 1950er-Jahren „von der Stadt aufs tiefste Land, ohne Auto und nix“ mitgenommen hat, wie die rothaarige, lebendige Frau erzählt. Sie wird demnächst achtzig. Alles unglaublich.Bloß nicht in Rente gehen

Galerist Bernat Rabassa, der auch schon seit Ewigkeiten mit Bechtold zusammenarbeitet, hat für alles eine simple Erklärung: „Die Kunst hält ihn jung.“ Er kenne Künstler, „die hat man in Rente geschickt, und nach drei Monaten waren sie tot“.

Daran wollen wir hier nicht denken. Deshalb schnell zur Ausstellung mit Bechtolds neuesten Arbeiten: Ölstift, Acryl und Grafit auf Leinwand oder Papier in unterschiedlichen Formaten. Schwarz-Weiß, Bechtolds Lieblingskombination, steht nicht ­immer allein.

Eine Serie 15 kleinformatiger Papierarbeiten strotzt geradezu vor Farbe. Hellrot, Dottergelb, Orange, kräftiges Blau, immer nur eine Farbfläche pro Bild, mit Schablone und dicken Pinseltupfern satt aufgetragen, am Rand angefressen von wilden Grafitkritzeleien. „Eine Referenz an einen Sammler“, sagt Bechtold, „der sagte: ‚Erwin, mal doch mal was mit Farbe!‘“

Bloß nicht "zu schön"

Das tat er, und blieb sich natürlich trotzdem treu. Sein Motto Farbe nur dann, wenn sie die Schwarz-Weiß-Spannung

erhöht, bleibt gültig. Farbe nie der Ästhetik wegen. Bechtold fürchtet seit sechzig Jahren, dass ein Bild „zu schön“ werden könnte. Dabei müsste man erst den Begriff definieren. Denn seine Bilder sind sehr schön: Sie haben die Ausstrahlung in sich ruhender Persönlichkeiten.

Selbstporträts würde Bechtold sie nie nennen, aber immerhin sagt er, er male nichts anderes als Porträts, abstrakte Porträts, versteht sich. Bechtold malt das Energiefeld, die Spannung des Menschen, das Rationale und Emotionale, das uns zusammen­hält. Er malt das, was man empfindet, wenn man Menschen gegenüber steht, also das, was wir empfinden, wenn wir uns in seinen Bildern wiedererkennen.

Bechtold malt Selbstporträts der Betrachter. Das kann unangenehm werden, wenn man sich lieber nicht ins Gesicht blickt, oder es kann sehr bereichernd sein. Vermutlich braucht man ein Mindestmaß an Integrität und natürlich Mut, um sich dem Dialog zu stellen. „Ich will vertiefen“, sagt Bechtold leichtfertig. Für Bernat Rabassa sind Bechtolds Bilder das „Unkommerziellste, das ich kenne“.Bloß nichts gerade

Der Maler drückt sein Anliegen in allen Details aus: Die Flächen der farbigen Papierarbeiten hat er zum Beispiel deshalb mit Schablonen gemalt, weil „dann der Rand so schon uneben wird“. Ein Lineal kommt nicht zum

Einsatz, denn auch hier, bei den ungeraden Linien und den unregelmäßigen Rändern, drückt Bechtold die Spannung zwischen Verstand und Gefühl aus. Seine Bilder sind geometrisch und organisch zugleich.

Inspirierend wirkt seit sechzig Jahren die Insel Ibiza. Sein Haus steht in Sant Carles auf einem Hügel. Er gibt den Blick frei auf Meer und Landschaft und viele ibizenkische Häuser: „Alle geometrisch, alle ungerade“, sagt er und freut sich über diese handgemachte Rebellion gegen den rechten Winkel.Bloß nicht beim Kauf zögern

Auch seine Bilder strahlen Rebellion aus, Rebellion und Radikalität. Rabassa begeistert Bechtolds Radikalität. Er ist sein größter Fan, auch wenn die Werke nicht leicht verkäuflich sind. Aber wer sammelt, sollte zugreifen: Dem Marktgesetz zufolge sind besonders jene Bilder wertvoll, deren Autoren schon sehr betagt sind. 29 Arbeiten sind in der Galerie Altair in Palmas Altstadt zu sehen, davon vier großformatige mit reduzierter Bildsprache. Ein Paar überrascht, weil Bechtold auf die beiden hellen Leinwände hellrosa Flächen gemalt hat. „Das Zarteste, was ich finden konnte“, sagt er mit Blick auf die Bilder, „die schwarzen Linien wären sonst zu schwer geworden.“

Zeitgleich zur Ausstellung ist ein zweibändiger, schwerer Werkkatalog im Verlag Walther König erschienen. Er belegt Bechtolds gesamte Karriere, zeigt Werke von 1952 bis 2014. Acht Jahre haben er, seine Frau Christina und Kirsten Maria Limberg, die an der Universität Koblenz-Landau ihre Doktorarbeit über Bechtold geschrieben hat, daran ­gearbeitet. Dass er die Veröffentlichung des Verzeichnisses noch erlebt hat, das freut Christina Bechtold besonders.

Stolz zeigt sie die beiden leinengebundenen Bände, kurz bevor das Paar zum nächsten Treffen muss. Schnelle Verabschiedung und noch die Frage, wie denn die Auswahl der Bilder zustande gekommen sei. „Ich hab im Atelier was gesucht, das zusammen passt“, erklärt Bechtold lakonisch. Auswahl gab es wohl reichlich. Alle Arbeiten sind von 2016 und 2017. Er arbeite täglich fünf bis sechs Stunden, sagt seine Frau beim Verlassen der Galerie, und Bechtold fügt an: „Das ist wie ein Virus.“

Erwin Bechtold: Obra recent. Galeria Altair, C./ Sant Jaume, 15, Palma. Bis Mitte März