Von der alten Mandelfinca in Es Calonge zum Stardesigner in New York: Miguel Adrovers Biografie klingt fast zu erstaunlich, um wahr zu sein. Dass er mit zwölf Jahren die Schule abbrach, um seinen Eltern - einfachen Bauern bei Santanyí - bei der Mandel­ernte zu helfen. Dass er mit 18 nach London zog, wo er sich mit einfachen Putzjobs über Wasser hielt. Dass es ihn mit 25 als Punk nach New York verschlug und er eher zufällig über einen befreundeten Schneider mit Mode in Berührung kam. Und dass es ausgerechnet Anna Wintour, die berühmt-berüchtigte Chefredakteurin der Modezeitschrift „Vogue" war, die ihm - von seiner Arbeit begeistert - mit Artikeln nach ganz oben katapultierte. Dass Top-Models wie Kate Moss mit ihm arbeiten wollten. Dass er auf der Fashion Week in New York am 9. September 2001 eine von der arabischen Welt inspirierte Kollektion präsentierte, die dann zwei Tage später, nachdem Terroristen die Zwillingstürme zu Fall gebracht hatten, gänzlich unverkäuflich war. Dass er die Welt bereiste, um letztlich all den Ruhm abzulegen und zurückzukommen nach Es Calonge. Zu seinen Wurzeln, könnte man sagen. „Zu mir selbst", sagt Adrover.

Er wirkt zurückhaltend, etwas schüchtern, als er die MZ zum Interview empfängt. Und er sieht älter aus als 52. Ausgezehrt, mit grauen Strähnen im Bart und den langen Haaren, mit tiefen Furchen im schmalen Gesicht. So ganz anders als jemand, für den Blitzlichtgewitter lange zum Alltag gehörte. „Ich bin es kaum noch gewohnt, Konversation zu machen", sagt er, fast entschuldigend. Vor fünf Jahren kam er zurück nach Mallorca, vor vier Jahren löschte er seine Accounts bei sozialen Netzwerken und gab sein Handy ab. „Ich habe mich ganz schön eingeigelt", sagt er, doch ein Lächeln umspielt seine Lippen.

Miguel Adrover ist niemand, der auf Glamour und oberflächliche Fröhlichkeit steht. Das merkt man sofort, wenn man die Galerie in Santanyí betritt, in der er seit Ende März ausstellt. Trotz der weißen Wände und hellen Räumlichkeiten liegt Melancholie in der Luft. Vielleicht wegen der etwas schummrigen Musik, die die Ausstellungsräume durchzieht wie Nebel­schwaden, vielleicht wegen der Bilder an den Wänden, vielleicht wegen Adrover selbst. „Die Bilder zeigen viel von mir", sagt Adrover. Vermutlich mehr, als es seine Mode je getan hat. Er habe sich eingeengt gefühlt, in den Teams mit Stylisten, Produzenten, Models und Technik-Crew, die jedes Shooting mit sich bringt. Diesmal hat er seine Werke allein produziert, fernab von Studio­lichtern, im Haus und Garten seiner Familie, ohne großes Tamtam. Sind es Gemälde? Sind es echte Personen, die dort abgebildet sind? Nicht immer ist es eindeutig.

„Schaufensterpuppen und Fotos", sagt Adrover. „Die sind alle hiermit entstanden", fügt er hinzu und klopft auf eine kleine, alte Digitalkamera in seiner Hand. 150 Euro hat sie mal gekostet, die Knöpfe funktionieren nicht immer. „Aber ich benutze sowieso nur den Automatik-Modus." Auch auf künstliche Lichtquellen verzichte er. „Und nein, ich habe nicht mit Photoshop nachbearbeitet."

Selbst ohne solche Details sind die Werke faszinierend - egal, ob der Betrachter etwas von Kunst versteht oder nicht. Aufwendige Schminke, ja fast malerische Kunstwerke auf den Puppen, verleihen den einst leblosen Gesichtern bizarr-lebendige Ausdrücke, Gewänder aus Plastik oder alten Tüchern geben ihnen Charakter, die Kompositionen im Freien erzeugen Stimmung. Die Wirkung sei bei den Mallorquinern vom Dorf bei der Vernissage fast noch größer gewesen als bei seinen Freunden aus New York und dem Rest der Welt, die bei der Eröffnung Ende März angereist kamen, erzählt Adrover.

Er habe eigentlich keine Ahnung von Kunst, sagt er. Besuche in Museen gehören nicht zu seinen Freizeitbeschäftigungen, die Lektüre von Kunstbüchern erst recht nicht. Wohl aber die von Zeitungen, von Artikeln über die Folgen des Klimawandels, über Kriege, Globalisierung und Kapitalismus, Rassismus und die westliche Wegwerfgesellschaft. Es sind Themen, die in seinen Werken auftauchen. „Kunst muss die Wirklichkeit reflektieren und die Alarmglocken schrillen lassen", findet Adrover knapp.

Auch als Designer war er bestrebt, auf die Missstände der Welt aufmerksam zu machen. Von 2008 bis 2013 arbeitete er für die deutsche Biomode­firma Hess­natur. Er gilt als einer der Pioniere des Up-Cyclings, also des Herstellens neuer Kleidungsstücke aus alten. „Wir hätten auf diesem Gebiet damals in Europa einen Durchbruch schaffen können", glaubt Adrover. Er hätte sich mehr Aktivismus, mehr Mut von den Verantwortlichen bei Hessnatur gewünscht. Doch man habe ihn nicht verstanden.

Adrover wohnt heute allein auf dem alten Gehöft unweit seines Elternhauses. Seit fünf Generationen gehört es seiner Familie, den tropischen Garten drum herum hat er selbst angelegt. Mit Pflanzen, die er von seinen Reisen mitgebracht hat. Manchmal übernachten Airbnb-Gäste in der Wohnung im Obergeschoss, manchmal kommen auch Größen der Modebranche auf einen Kurzurlaub vorbei. Trotz der Abschottung: Die Kontakte sind noch vorhanden. „Viele wollen, dass ich zurückkehre", sagt Adrover. Doch es ziehe ihn nichts mehr in Großstädte, jetzt, wo der Online-Handel den Zauber des Besuchs besonderer Läden verflüchtigt hat, die nur in wenigen Städten zu finden waren.

Nicht, dass es einfach gewesen sei, aufs Land zurückzukehren. Vor lauter Stille habe er anfangs kaum schlafen können, sagt er. „Das Schlimmste war aber, dass ich nicht mehr in den Spiegel schauen konnte." Nicht, weil er seine Zeit in der Modebranche bereue. „Aber ich habe nicht mehr mich gesehen, sondern nur noch eine Rolle", sagt Adrover. Sich selbst zu finden, sich am Leben zu fühlen. das sei wohl der eigentliche Grund für die Rückkehr nach Mallorca gewesen.

Dass der Truthahn tot ist, sieht man dem Foto schon von Weitem an. Schwer liegt das Federvieh um die Schultern der Schaufensterpuppe, die mit erstaunlicher Tiefe in die Ferne schaut. Das Foto fesselt, ist schön und hässlich zugleich.

„Grotesk würde ich es nennen", sagt Adrover. Aber da käme es eben auf die Sichtweise an. „Den Truthahn hat meine Mutter umgebracht, um ihn zu essen. Ich finde das weit weniger grotesk als zum Beispiel einen Silikonbusen."

Zahlreiche Requisiten auf den Fotos stammen aus dem Haus und Garten seiner Eltern, viele der Fotos schoss Adrover in einem Brunnenschacht auf dem Gelände. „Ich kann es kaum erwarten, wieder in den Brunnen zu steigen und weiterzumachen", sagt er. Die Mode sei ein Teil seines Weges gewesen, die Kunst ein neuer Abschnitt. „Ich bin heute zufriedener als früher", resümiert Adrover. Weil er geerdet sei und nah bei seinen Eltern. Und vielleicht auch, weil man mit Kunst mehr erreichen könne als mit Kleidung. „Sie ist wenigstens nicht nach sechs Monaten schon wieder aus der Mode."

„La mort amb prebes torrats" ist bis zum 30. April in der Galerie an der Plaça Canals in Santanyí zu sehen. Mo. bis Fr. von 18 bis 21 Uhr, Sa. und Mi. von 10 bis 13 Uhr.