Einsam steht der Junge, gerade mal 19 Jahre alt, an einer Landstraße in Nordfrankreich. Es ist 1963. „Ich fuhr nach Norden, in Richtung Kälte. Mein Ziel war Deutschland. In jenen Tagen war es das gelobte Land, wo es - zumindest erzählte man es sich - für jeden Arbeit gab und man in einem Jahr reich ­werden konnte."

Mit dieser Szene beginnt der autobiografische Comic „Nieve en los bolsillos" (Schnee in den Taschen) des katalanischen Zeichners ­Joaquim Aubert Puigarnau, bekannt unter seinem Künstlernamen Kim. Er ist Kunststudent, aber künstlerische Freiheit gibt es in der Franco-Diktatur kaum. Der junge Joaquim hat noch ein Jahr, bevor er zum Militärdienst muss. Also beschließt er, nach Deutschland zu gehen. Geld verdienen. Auch wenn seine Mutter ihn für völlig bekloppt erklärt.

Anders als die Gastarbeiter

Viel ist in den vergangenen Jahrzehnten über das Schicksal der Gastarbeiter, meistens das der Türken, erzählt worden. Jene, die in politischen Abkommen zwischen der Bundesrepublik und ihrem Heimatland zum Arbeiten hinkamen. Kim erzählt in „Nieve en los ­bolsillos" eine weitaus weniger bekannte Geschichte - die der illegalen spanischen Gastarbeiter. Jene, die aus unterschiedlichen Gründen nicht die nötigen Papiere bekamen. Und die wie Kim, wenn sie Pech hatten, an der Grenze „Tourist" in den Pass gestempelt bekamen - und somit selbst für Firmen, die illegale Einwanderer einstellten, kaum vermittelbar waren.

Über Frankfurt, Köln und Kendenich kommt er nach Remscheid. Hier lebt er unter zunächst prekären Bedingungen. Aber die Männer, mehrere Dutzend in der Einrichtung, machen das Beste draus. Sein Zimmer wird schnell zum ­Künstlertreff. Es lebt sich unter dem Umständen ­irgendwie gut.

Ein Deutschland, das viele Deutsche nicht kennen

Das Buch zeichnet ein Bild von Deutschland, das wahrscheinlich viele Deutsche nie zu Gesicht bekommen haben. Nicht nur, weil es um die Schwierigkeit der Jobsuche unter verschärften Bedingungen geht. Sondern, weil es von einem verborgenen Schattensystem erzählt. Dabei geht es um diejenigen, die den illegalen Einwanderern halfen. Wie zwei Spanier etwa, die die Neuankömmlinge mit windigen Angeboten auszunutzen versuchen. Aber auch von Deutschen wird berichtet, die sich für diese Menschen aufopfern. Kim lernt hübsche deutsche Mädchen kennen, hilfreiche Polizeibeamte, windige Italiener und immer wieder auch Landsleute, die in irgendeiner Form sein Schicksal teilen.

Und er bekommt Schicksale mit. Wie das einer jungen Frau, die vor ihrem sexuell gewalttätigen Vater geflohen ist, und nie zurück nach Spanien will. Er begegnet einem alten Mann, für den Deutschland die allerletzte Chance ist, um einem Leben in kompletter Armut zu entfliehen. Da ist der Soldat, der nach einem geheim gehaltenen Krieg in Marokko desertiert ist. Oder auch der reiche Anwalt, der eine Affäre hatte, und dessen Schwiegervater ihn umbringen lassen will.

Kim erkennt in diesen Gesprächen, dass das, was für ihn ein Abenteuer ist, für diese Menschen das einzige Leben ist, was sie haben. Es gibt keinen Plan B. Es gibt kein - ich gehe zurück, weil meine Mutter mich vermisst. Oder weil ich den Militärdienst antreten muss, wie es letztlich Kim selbst widerfährt.

Was tun, wenn die Finger abfrieren?

Es ist die menschliche Ebene, die das ganze Buch durchzieht, die „­Nieve en los bolsillos" so eindrücklich macht. In den Jugenderinnerungen des Autors stellen sich dem Leser Fragen nach dem eigenen Verhalten, nach der eigenen Menschlichkeit, nach der eigenen Wahrheit. Kim beschönigt nichts, zumindest hat man nicht den Eindruck. Stattdessen erzählt er einfach. Und das richtig gut. Und er lernt bei einem Job eine kleine Lektion, die wohl auf Mallorca weniger Anwendung finden wird als in Deutschland: Wenn einem die Finger in der Kälte abgefroren sind, muss man sich auf die Hand pinkeln. Und schon kann man wieder Schnee schippen.

Kim, Nieve en los bolsillos, Norma, 200 S., 25 Euro (Spanisch).